Wenn man Matthias Matzke zuhört, wie er über das Akkordeon spricht, geht einem automatisch durch den Sinn: Da ist einer, der für seine Sache brennt, der eine Vision hat und ihr nachgeht. Und der lieber 30 oder 36 Stunden pro Tag als nur 24 hätte, um alle Ideen und Vorstellungen unterzubringen. Seit Herbst 2019 ist Matzke musikalischer Leiter des Akkordeonorchesters Münsinger Alb und hat außerdem noch das Symphonic-Metal-Projekt »Vangardion« und die Pop-Band »Uniccord« im musikalischen Köcher. All diese unterschiedlichen Stile vermischt er mit Hingabe und Lust am Experiment. Diese Vielfalt zeigt außerdem, dass das Instrument grenzenlos in seinen Einsatzmöglichkeiten ist. Matthias Matzke sieht das Orchester als modernes Unterhaltungsorchester und attraktiver Konzertpartner für Bands und Festivals. Er wünscht sich, mit außergewöhnlichen Programmen die größte Hebelwirkung für eine wachsende Akkordeonbegeisterung nutzen zu können. Und schafft auf diese Weise zusammen mit dem Orchester besondere Momente in kleinen und großen Konzerthallen.
Herr Matzke, beschreiben Sie einmal die Faszination des Akkordeons!
Matthias Matzke: Die Art, wie das Akkordeon Körperbewegungen in Klänge verwandelt, ist für mich eine unerschöpfliche Faszination: Fingerbewegungen von streicheln bis klopfen, und Balgbewegungen von sanft einwickeln bis impulsiv anreißen spiegeln starke menschliche Emotionen wider. Manche Stücke sind so zart, dass ich mich kaum traue, zu atmen. Andere sind so gewaltig, dass der Körpereinsatz mir die Schweißperlen auf die Stirn treibt. Von der Fußsohle bis zur Fingerspitze groovt und schwingt die Musik ums Instrument durch den Körper. Gleichzeitig ist Akkordeon für mich DAS musikalische Kreativwerkzeug schlechthin! Mit der rechten Hand lassen sich melodische Geschichten erzählen und erfinden. Der Balg haucht ihnen Leben ein und dabei können wir sogar mehrstimmig spielen und erleben, wie Ideen Nachdruck bekommen oder verschwimmen. Auf keinem anderen Instrument kann ich so intuitiv erleben, wie sich um die Erzählung einer einfachen Melodie durch harmonische Schattierungen eine tiefsinnige Klangwelt eröffnet: Die linke Hand liefert solche Schattierungen dank des genialen Standardbass-Systems sprichwörtlich auf Knopfdruck. Neben dramaturgischer Verstärkung durch Harmonik lässt sich links auch die Wirkung von Begleitrhythmen wunderbar erkunden: Von träge schleppend bis tänzerisch animierend – es wird für mich ein Wunder bleiben, was sich am Akkordeon mit nur zwei Händen gestalten lässt. Die Register wecken dabei eine orchestrale Klangvorstellung. Natürlich hat jedes Instrument einen typischen Kontext, aus dem die Hörer den Klang kennen. Ich habe gelernt, einzusehen, dass eine breite Masse nicht über den Tellerrand von Klischees sehen kann. Für mich lässt sich Akkordeon aber nicht nur auf seinen typischen Sound reduzieren. Beim Spielen erlebe ich in meiner Vorstellung ganz andere Qualitäten: etwa sangliche Cello-artige Melodien, cremige streicherartige Flächen oder harte gitarrenartige Akzente. Erfahrungsgemäß kann das auch unbedarfte Zuhörer berühren, wenn die Gestaltung entsprechend herausgearbeitet wurde und diese einen Rahmen finden, in dem sie sich darauf einlassen können, mehr als oberflächliche Klischees wahrzunehmen.
Seit wann sind Sie beim Akkordeonorchester Münsinger Alb und wie kam es dazu?
Matkze: Mein Vorgänger Rudi Braun hatte im Herbst 2019 ganz schön große Fußstapfen hinterlassen: Mit über 130 eigenen Werken im Notenschrank stand Münsingen für außergewöhnliche Konzertprogramme als modernes Unterhaltungsorchester. Die musikalische Qualität war super und der Altersdurchschnitt der Spieler außergewöhnlich niedrig: Die meisten waren in ihren Zwanzigern, ganz wie ich. Zu Spielern des Orchesters hatte sich nach einer gemeinsamen Zeit im Akkordeonlandesjugendorchester eine Freundschaft gebildet und ich überlegte mit, wen ich als neuen musikalischen Leiter empfehlen könnte. Der Wunsch nach außergewöhnlichen eigenen Arrangements und Kompositionen war groß und das braucht neben der Fähigkeit, motivieren und mitreißen zu können, viel musikalische Kompetenz und vor allem Idealismus und Leidenschaft. Denn der Zeitaufwand ist immens. In einem Telefonat stellte ich fest, dass es mich ja doch selbst ein bisschen reizen würde. Obwohl ich das Hauptfach Dirigieren am Konservatorium belegt hatte, war mein Plan nach dem Studium nicht, direkt ein Orchester zu übernehmen – dafür hatte ich zu viel eigene Bühnenprojekte. Es war wohl eine glückliche Fügung, dass ich überwiegend aus Neugierde zum Probedirigat kam. Die Spielfreude des Orchesters riss mich mit, und ich war begeistert, wie schnell mein Input umgesetzt werden konnte. In Verbindung mit dem Wunsch nach neuer Literatur fand ich einen Nährboden für meine große Vision, die fantastischen Möglichkeiten des Akkordeons mit so vielen Menschen wie möglich zu teilen und sagte – zuerst beschränkt auf eine Saison – zu.
Sind Sie direkt mit konkreten, vielleicht auch größeren Zielen, an den neuen Job gegangen?
Matzke: Direkt nach unserer ersten gemeinsamen Probe hatten wir einen kleinen Unterhaltungsauftritt zusammen zu bewältigen, aber das war für mich mehr eine Art »handwerkliche Bewährung« als wirklich ein großes Ziel. Mein großer Antrieb war, zusammen mit den Spielern Neues zu entwickeln, Möglichkeiten für das Akkordeon zu erschließen und in die Akkordeonwelt zu tragen. Zu Beginn war das nicht konkret, ich wollte experimentieren mit dem Klangkörper Akkordeon-Orchester und dann an den Ansätzen dranbleiben, von denen die größte Begeisterung auf uns ausging. Ich bin überzeugt, dass sich auch das Publikum am meisten begeistern lässt, wenn alle Spieler Feuer und Flamme sind für das, was sie da tun. Wenn die Musik fasziniert, ist weniger Energie nötig, um die Spieler zum Üben und in Konzertstimmung zu bringen.
Beschreiben Sie doch mal Ihre Vision für das Orchester!
Matzke: In Fortsetzung der tollen Arbeit meiner Vorgänger und in Einklang mit meinem persönlichen Credo möchte ich mit außergewöhnlichen Programmen die größte Hebelwirkung für Akkordeonbegeisterung finden und nutzen! Die Positionierung als jugendlich-dynamisches Unterhaltungsorchester wird uns auf diesem Weg weiter eine große Hilfe sein. Eine große Stärke des Akkordeons – und des Akkordeonorchesters – sehe ich persönlich in facettenreicher Begleitung. Ich habe beobachtet, dass ich bei reinen Akkordeonkonzerten manchmal etwas vermisse: etwa das Feuer einer Gitarre in der Rhythmus-Sektion oder die Ausdrucksstärke von Gesang in einer Solo-Melodie. Die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern und Bands ist für mich ein wichtiger Schritt, um das Akkordeon in neue Kreise zu bringen und Wege zu ebnen. Ich habe die große Vision, mit dem Akkordeonorchester einmal auf einer großen Festivalbühne zu begeistern, zum Beispiel zusammen mit der Band »Vangardion« auf einem Festival wie dem Wacken Open Air!
War es ein reibungsloser Start – oder gab es auch Herausforderungen?
Matzke: Es hat von Anfang an sehr große Freude gemacht, und tolle Ideen kamen wie von selbst. Zu Beginn war es natürlich eine Herausforderung, trotz Corona und der Lockdowns weiterzukommen, aber wir haben die Zeit gut genutzt, um uns kennenzulernen und Konzepte zu entwickeln. Eine große Herausforderung für mich war, dass ich nur ein geringes Zeitkontingent für die Orchesterarbeit freimachen konnte. So ging ich aus jeder Probe mit zu vielen neuen Ideen und musste viel jonglieren. Wenn ich innerhalb einer Woche bis zur nächsten Probe nicht so viel umsetzen konnte, wie ich mir gewünscht hatte, hatte das Frustpotential. Durch offene Gespräche habe ich gelernt, dass außer mir ohnehin niemand so hohe Erwartungen hatte. Wenn Ideen da sind, für die ich gerne 200 Prozent geben würde, haben 110 Prozent immer noch großes Begeisterungspotential. Gleich zu Beginn war jedoch ein entscheidender Engpass die Jugendarbeit. Ich hatte zugesagt, nur die Orchesterleitung zu übernehmen – und das auch nur für eine Saison. Mir war klar, dass für die zukunftsfähige Ausrichtung des Vereins eine längerfristige Planung und mehr als die reine Probenarbeit nötig sein wird.
Sie haben einen recht jungen Altersdurchschnitt im Orchester – wie erklären Sie sich das?
Matzke: Mein Vorgänger Rudi Braun begann mit seiner Nachwuchsarbeit ziemlich genau zu der Zeit, als ich selbst mit Akkordeonspielen begann. Unser hohes Spielniveau und die wundervollen Freundschaften, die im Orchesterkreis bestehen, zeigen, wie wertvoll diese Initiative war. Durch die Ausrichtung der Spielliteratur an Wünschen der Spieler, durch die Bearbeitung moderner Stücke und durch hochprofessionelle Konzertauftritte blieb das Orchesterspiel attraktiv.
Wie funktioniert Ihre Nachwuchsarbeit – wie wichtig ist die Grundschul-AG?
Matzke: Die Kooperation mit Grundschulen war der wichtigste Motor zur Begeisterung von Kindern für Akkordeon. Dass die Nachwuchsarbeit nun einige Jahren stillstand, sehen wir direkt an einem Generationenloch. Immer noch ist meine Zeit der entscheidende Engpass, sodass ich derzeit nicht selbst eine AG anbieten kann. In Anbetracht der Tatsache, dass von Jahr zu Jahr Spielerinnen und Spieler aufgrund eines weiter entfernten Studiums oder Berufsbeginns ausscheiden, wird die Wiederaufnahme der Nachwuchsarbeit brisant. Konzepte sind bereits in Entstehung.
Wie wichtig ist es, ein gutes Netzwerk auch mit externen Musikerinnen und Musikern zu haben?
Matzke: Kurz- und mittelfristig sind externe Spielerinnen und Spieler für uns ein wertvoller Puffer für größere Projekte. In diesem Netzwerk sind zum Beispiel ehemalige Mitspieler, die für einen regelmäßigen Probenbesuch inzwischen zu weit entfernt leben, aber auch Spieler, die Lust darauf haben, tolle Konzerte zu erleben und außergewöhnliche Programme zu spielen.
Wie hält man die Externen aktiv bei der Stange?
Matzke: An erster Stelle steht natürlich die Attraktivität der Musik und des Konzerterlebnis. Dann muss der Aufwand machbar sein, etwa mit kompakten Probewochenenden. Eine Vorbereitung durch Aufnahmen, zu denen geübt werden kann, erleichtert die Vernetzung. Wir sind uns sicher, dass auch unsere Social-Media- und Internetpräsenz eine wichtige Rolle spielen, externe Spielerinnen und Spieler für große Projekte zu erreichen.
Beschreiben Sie einmal eine Probensituation: Wie sieht eine gelungene Probe aus?
Matzke: Da viele Musikerinnen und Musiker eine weite Anreise haben, proben wir Freitagabend. Nach einer vollen Arbeitswoche ist da oft schon die Luft raus. In einer gelungenen Probe stimme ich die ersten paar Takte an und beobachte, wie die müden Gesichter vor mir aufblühen und auf magische Art in hochkonzentrierten Flow kommen. Nach zweieinviertel Stunden schaue ich dann das erste Mal auf die Uhr und bemerke, dass wir schon wieder überzogen haben. Wir sitzen anschließend zusammen, alle haben richtig Lust, weiterzumachen, und wir starten bestens gelaunt ins Wochenende. Die Proben, an denen das nicht so verläuft, sind tatsächlich selten. Ich mache das Gelingen einer Probe weniger von zu erreichenden Zielen abhängig, denn das erzeugt Druck statt Flow. In Flow aber kommen wir, wenn die Musik sich verbessert und ihre Kraft entfaltet. Das ist eine ganz natürliche Aufwärtsspirale.
Wie stellen Sie die Musikauswahl für ein Konzert zusammen?
Matzke: Mein Anspruch an ein Konzert ist, dass es das Publikum aus dem Alltag entreißt und Erfahrungsräume eröffnet. Das kann geschehen, indem ein Konzert berührt, bewegt, überrascht oder zum Staunen bringt. Ein gutes Konzert entführt auf eine Reise und erzählt Geschichten. Ein aussagekräftiger Titel oder ein Motto locken die richtigen Leute an, die sich auf eine solche Reise einlassen wollen. Entsprechend sammle ich Stücke und überprüfe die Reihenfolge auf ihre Wirkung: Der rote Faden muss weitergesponnen werden können, überraschende Wechsel dürfen nicht irritieren. Wie das gelingt und an welchen Stellen Moderationen Überleitungen und vertiefende Anekdoten beisteuern, ist stark individuell.
Neben dem Orchester gibt es die Rockband »Vangardion« – ein ziemlich weiter Blick über den Tellerrand, oder?
Matzke: Symphonic Rock und Metal bewegen mich und meinen Bruder an den Drums schon seit unserer Jugend. Seit eh und je suche ich für Musik, die mir gefällt, Wege, sie auf meinem Instrument erleben zu können. So entstanden Cover und Spieltechniken, die mich über Improvisationen am Akkordeon auch zu eigenen Symphonic-Rock-Hymnen führten und unser Traum, einmal ein eigenes Rock-Album auf die Bühne zu bringen, wurde wahr.
Wie kam es zur Zusammenarbeit zwischen Band und Orchester und wie sieht sie konkret aus?
Matzke: Einige Kompositionsideen für die Band gab es schon vor meiner Zeit mit Münsingen. Leider war die Corona-Zeit ein vorläufiges Ende unserer Bandarbeit, aber die Stücke reiften weiter, und ich startete das Experiment, sie für Orchester zu arrangieren. Es klang richtig gut, und alle hatten Spaß daran. Unser erstes Konzert mit reinen Orchesterfassungen stieß auf umwerfende Resonanz und ich spürte, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war, den Traum wieder aufleben zu lassen. Wir reservierten die Stadthalle Reutlingen für eine große Premiere und ich entwickelte die Orchestersätze parallel zur Studioarbeit, so ergaben sich wertvolle Querverbindungen. Im Studio spielte ich die Akkordeonstimmen selbst ein. Das erste Aufeinandertreffen von Band und Orchester fand dann an zwei Probewochenenden vor der Konzertpremiere statt.
Wer steckt hinter »Vangardion«?
Matzke: Frontfrau Leonie Kratz mit ihrer Sopranstimme, Fabian Horn an der E-Gitarre, Fabian Matzke an den Drums, ich am Digitalakkordeon und potentielle Orchester, die das Programm mit uns aufführen wollen. Die Stücke sind so konzipiert, dass sie auch ohne Band toll klingen und Spaß in den Proben machen. Wir könnten prinzipiell auch zu viert spielen, aber nach den ersten beiden Live-Terminen wurde uns schnell klar, dass der Akkordeon-Orchester-Sound ein riesiger Gewinn für diese Musik ist und das Publikum noch gewaltiger aus den Stühlen heben kann.
Gibt es zum Wacken-Projekt schon Neues zu berichten?
Matzke: Auf einem Festival wie dem Wacken zu spielen und die verdutzten, dann überwältigten Gesichter des Publikums zu beobachten, wenn ein Akkordeonorchester die Bühne betritt, ist ein Ziel, das uns sehr anspornt. Das Album hat höchste Qualität, wir blicken auf umwerfende Reaktionen bei unseren Liveshows zurück und haben tolles Material, um auf Veranstalter zugehen zu können. Für 2024 ist es etwas kurzfristig, aber natürlich verfolgen wir dieses Ziel weiter!
Welche Rolle spielt die Pop-Band »Uniccord« in Ihrem musikalischen Kosmos?
Matzke: Die noch nicht veröffentlichte Band »Uniccord« war auf der Suche nach einem Akkordeonisten und kam auf mich zu. Als ich für die ersten drei Songs ins Studio fuhr, war ich von der Qualität der beiden Gesangsstimmen, dem modernen Songwriting und Sound dermaßen verblüfft, dass ich sofort zugesagt habe. Während »Vangardion« bewusst eine Nische bespielt, haben die Songs von »Uniccord« absolut radiotaugliches Potential und klingen nach Eurovision Song Contest. Dass das Akkordeon in jedem Song eine tragende Rolle spielt und ich Raum für virtuose Soli habe, ist für modernen Pop sehr untypisch. Ich bin sehr neugierig auf die Veröffentlichung und kann mir gut vorstellen, dass »Uniccord« viele Hörer begeistern wird. Wenn wir zum Start genug Videoklicks bekommen, kann das Akkordeon so wieder in ganz neue Kreise gelangen.
Sind auch hier Kooperationen mit dem Orchester geplant?
Matzke: Zwei Musikvideos haben wir bereits mit den Sängern und dem Orchester zusammen gedreht. Es wird richtig knallen und ich hoffe, dass möglichst viele Akkordeonspieler das Potential erkennen und die Videos gleich zum Start kräftig teilen: Voraussichtlich dürfen wir das erste Video zum 8. Mai auf dem YouTube-Kanal von »Accordio« veröffentlichen.
Vielen Dank für das Interview!