Ein Interview mit den Erfolgskomponisten Mathias Rauch und Norbert Gälle
Ihre Titel »Böhmischer Traum« und »Böhmische Liebe« sind sicher zwei der erfolgreichsten Blasmusik-Hits aller Zeiten. Da beide auch gerne zusammenarbeiten, wie bei »Traum und Liebe«, erlaube ich mir die Fragen in diesem Interview parallel zu stellen. Lassen Sie uns starten!
Wie erklären Sie sich den riesigen Erfolg Ihres Titels?
Matthias Rauch (MR): Ich glaube, dass die Böhmische Liebe ein besonderer Mix aus Musik und Lyrik ist … die Kombination vom zweideutigen Text und der auf der einen Seite einfachen Melodie, aber doch mit fordernden schwierigen Stellen im Bass-Solo und harmonischen Hindernissen reizt zum Nachspielen. Der Text ist romantisch, eine Liebesgeschichte…eine Hommage an viele Dinge im Leben. Ich glaube das ist das Geheimrezept der Polka, deswegen ist sie so vielseitig einsetzbar. Sie funktioniert in allen Genres der Musik, bei allen Veranstaltungen ob Zeltfest, Hochzeit, Aprés-Ski, am Ballermann, auf dem Oktoberfest in München, auf Festivals, aber auch bei Beerdigungen. Dass sie auf der ganzen Welt und in allen Sprachen funktioniert, ist schon ein besonderes Privileg und macht mich natürlich sehr demütig und stolz.
Norbert Gälle (NG): So einfach lässt sich das gar nicht erklären – ich denke, dass der »Böhmische Traum« zum richtigen Zeitpunkt und mit den riesigen Orchestern den Nerv der Zuhörer getroffen hat. Die eingängige und zu diesem Zeitpunkt noch völlig neue Melodieführung verleiht ihm außerdem einen echten Ohrwurm-Charakter.
Wissen Sie noch, wann Ihnen die Idee zu diesem Titel gekommen ist?
MR: Die Polka war ursprünglich eine Auftragskomposition für eine kleine Tiroler Kapelle zu ihrem Jubiläum. Das Schräge an der ganzen Sache war, dass ich diesen Auftrag schlichtweg vergessen hatte. Ein Anruf des Kapellmeisters der jubilierenden Kapelle wenige Wochen vor dem Jubiläumskonzert wies mich wieder darauf hin. Es standen nur noch wenige Proben an, so musste ich die Zeit mit einer Notlüge überbrücken. Ich hatte noch keinen einzigen Takt geschrieben, und die Noten mussten einen Tag später übermittelt werden. An diesem besagtem Abend, nach dem Telefonat mit dem Kapellmeister, entstand dann mit einer Flasche Wein auf dem Klavier diese Polka, nach den Vorgaben des Kapellmeisters, dass die Polka nicht zu schwer im hohen Blech, nicht zu schwer im Holzregister und mit Text, wenn möglich im böhmischen Stil komponiert werden sollte. Eigentlich gar nicht meine Art, so einfach zu arrangieren – wahrscheinlich war das aber genau das Rezept für diese Polka. Ich habe dann am nächsten Tag das fertige Arrangement samt Text dem Kapellmeister übergeben. Seit dem habe ich am Blasmusikarrangement nie mehr einen Ton verändert.
NG: Beim »Böhmischen Traum« war es so: Wir waren im Tonstudio, um unsere CD zum zehnjährigen Orchesterbestehen einzuspielen. Meine neue Komposition war auch auf dem Programm. Am nächsten Morgen rief mich mein Bruder Anton an, um mich für die Produktion nach dem Titel zu fragen. Gemeinsam überlegten wir und plötzlich kam ich auf meinen Traum der vergangenen Nacht. Ich besuchte einige Zeit zuvor noch ein letztes Konzert von Ernst Mosch und seinen Egerländern, dort kam dieser zu Beginn sehr geschwächt und gebrechlich die Treppen zur Bühne herunter. Ich hatte sofort das Bild meines 1988 an Krebs verstorbenen Vaters, ein Musiker und ebenfalls Dirigent mit Leib und Seele, vor Augen – ein Déjà-vu…. Daraufhin fiel mir der Titel »Böhmischer Traum« ein.
Jedem Titel liegt ja die erste Idee zugrunde. Schreiben Sie die Ideen abschnittweise auf oder behalten Sie sie im Kopf, bis das Werk fertig konzipiert ist?
MR: Ich habe nie etwas in der Schublade. Und ich schreibe meine Titel alle noch zuerst auf Papier, mit einem Bleistift: Dabei skizziere ich den gesamten Titel durch und harmonisiere aus dem Kopf. Wenn ich nicht von links oben bis rechts unten fertig komponiere, kommt der Titel weg. Der rote Faden muss sich durchziehen. Einzelne Teile oder Skizzen gibt es bei mir nicht. Wenn die Skizze im Kopf und auf dem Schmierzettel fertig ist, fange ich mit dem Arrangement an.
NG: Auch bei mir entwickelt sich ein Werk schrittweise und mit verschiedensten Ideen… Diese singe ich dann immer gleich (sonst sind sie weg) sofort auf Tonband und versuche dann letztendlich, mit diesen Ideen ein komplettes Werk zu komponieren.
Welcher Schritt folgt dann als nächstes?
NG: Nachdem ich einige Melodiepassagen eingefangen habe, setze ich mich in meinen Musikzimmer, spiele die Passagen mit meinem Tenorhorn an und versuche, daraus eine neue Melodie zu schreiben. Das mach ich mittlerweile am Computer. Bei mir läuft das gesamte Orchester dann bereits im Kopf mit und ich kann so die jeweiligen Noten aufschreiben. Mit dem Computer das einfacher und auch deutlich schneller als früher.
Die Blasmusikszene ist ja komplett überschwemmt mit Titeln der böhmischen Blasmusik. Auch die Machart der Titel unterscheidet sich nicht großartig. Warum schaffen es dennoch manche Titel, sich aus dem Einheits-Sound herauszukatapultieren?
MR: Ja, die Masse an Kompositionen ist wahnsinnig groß geworden. Das Komponieren wird mit den verschiedenen Notenprogrammen sehr erleichtert, wenn man das dann auch Komponieren nennen darf. Komponieren kann heute eigentlich jeder Mensch, weil jeder Mensch etwas niederschreiben, singen, pfeifen kann, was es noch nicht gibt. Das Handwerk des Arrangierens ist jedoch eine ganz eigene, spezifische Arbeit. Da trennt sich dann die Spreu vom Weizen. Gute Arrangements werden sicherlich öfter gespielt als Arrangements von Hobbykomponisten. Im Endeffekt aber entscheidet immer das Publikum, was gut oder schlecht ist. Auch weniger gute Arrangements sind sehr erfolgreich. Der Konsument und die Emotion des Konsumenten entscheiden, ob gut oder schlecht. Das ist leider so.
NG: Mit dem »Böhmischen Traum« habe ich 1998 einen neuen und eingängigen Sound, auch durch das Einsetzen von Moll-Tönen, auf den Markt gebracht. Da es ja der natürliche Wunsch aller Kollegen ist, ebenso einen Erfolgstitel zu komponieren, versuchen viele, dieses eventuelle und scheinbare »Erfolgsgeheimnis« in ihren Titeln zu verwenden. Grundsätzlich ist es aber auch so, dass die böhmische Musik ihren Grundsound hat und sich viele Titel dadurch im Klang ähnlich anhören.
Da dieses Magazin eine Fachzeitschrift für Akkordeon und Akkordeonorchester ist, wäre es sicher interessant, wie ein Erfolgskomponist wie Sie zu diesem Instrument und seiner Literatur steht.
MR: Ich bin in einer Musikerfamilie aufgewachsen und mein Vater, mein Bruder und ich spielen Steirische Harmonika. Mein Vater war ein Akrobat auf der Steirischen. Ich habe schon in Kinderjahren Harmonika gespielt, sogar als Jungstudent am Konservatorium. Durch mein klassisches Tuba-Studium hat das nachgelassen – heute spiele ich nur noch ab und zu in einer geselligen Runde. Generell beobachte ich die Akkordeonszene schon, allein weil ich auch für sämtliche Oberkrainer Gruppen immer wieder Titel komponiere, und ich mit der Szene sehr verwachsen bin. Schon beeindruckend, wie viele junge Talente am Akkordeon ihr Können zeigen. Da machen sich die gute Ausbildung und die vielseitige Literatur natürlich bezahlt.
NG: Ich persönlich bin mit dem Akkordeon und dessen Literatur nicht oder nur sehr wenig vertraut. Mein Vater spielte aber auch Akkordeon, und ich mag den Klang sehr gerne und verbinde Kindheit damit.
Ihre Formation »Scherzachtaler« Blasmusik bzw. die »Innsbrucker Böhmische« sind ein Garant für Riesenstimmung im Festzelt. Was müsste die Akkordeonszene anders machen, um auch dieses Gefühl mal zu erleben?
MR: Viele Titel von den Scherzis und von den Innsbruckern spielen. Spaß! (lacht) Ich glaube, dass man Stimmung nur mit ehrlicher, emotionaler Musik erreichen kann. Nur mit Emotion, egal ob im Festzelt oder bei einer Beerdigung: Bei jeder Art von Musik geht es nur um die Emotion. Wenn man die erreicht, wird der Funke überspringen, egal mit welchem Instrument oder Ensemble.
NG: Der Trend setzt die Maßstäbe… In der Zeit von 1980 bis zum Mauerfall 1989 war Blasmusik out und bei der Jugend verpönt. Ich wurde als junger Kerl ausgelacht, wenn ich erzählte, dass ich großer Fan von Ernst Mosch bin. Dann kamen die tschechischen Musiker über die Grenzen und zeigten uns eine ganz andere schwungvolle und technisch exzellente Art, Blasmusik zu machen. Das holte langsam die jungen Menschen wieder vor die Bühnen.
Als kleines Beispiel führe ich hier David Garrett auf. Erst durch diesen »coolen und modernen« Typen auf der Bühne, der seine Geige wie zuvor kein anderer in Szene gesetzt hat und exzellent damit umgehen kann, kam bei der Jugend die Geige als Trend-Instrument überhaupt in Frage. Davor war es eher den biederen älteren Damen und Herren zugeordnet. Dadurch hat sich dann aber auch die Geigen-Literatur völlig verjüngt und modernisiert, und neue Kompositionen dafür wurden auf den Markt gebracht.
Vielleicht braucht es einen Akkordeon spielenden Influencer, der dieses Instrument cool und modern macht und somit auch die Amateure, das Publikum für sich begeistern können und neue moderne, dem Zeitgeist entsprechende Akkordeon Literatur komponiert wird.
Sind wir doch mal ehrlich: Jahrelang stand die Akkordeon-Musik gefühlt im Schatten der Blasmusik. Die Blasmusik hatte riesige Hits! Die Blasmusik sorgte in jedem Festzelt für Stimmung! Warum kennt jeder die Hits der Blasmusik und die Titel der Akkordenszene häufig nur die Szene selbst?
MR: Schwierige Frage… Ich glaube, dass die Akkordeonszene vielleicht nicht diesen Stellenwert bei Veranstaltern hat. Für Auftritte braucht es Veranstalter. Der Veranstalter braucht Publikum. Nur so kommen Titel in Umlauf. Ein großer Teil der Interpreten und natürlich auch Fans der volkstümlichen Blasmusik sind Jugendliche.
NG: Ich denke, das ergibt sich aus vorhin genannter Argumentation… es bedarf einfach dem Trend und neuen modernen Kompositionen sowie dem Auftreten der jeweiligen Kapellen. Es hat ja auch nicht jede Blaskapelle den gleichen Erfolg. Davon abgesehen hat die Blasmusik einfach auch deutlich mehr Instrumente und kräftige Klangkörper zur Verfügung, um für die notwendige Stimmung zu sorgen.
Bei der Akkordeonmusik gilt die volkstümliche Variante oft als uncool und Jugendliche möchten alles andere als Märsche, Walzer und Polkas spielen. Um von dem verstaubten Image des Volksmusikinstruments wegzukommen, stürzte sich die Akkordeonszene hauptsächlich auf Rock und Popmusik. Was meinen Sie – warum funktioniert es bei der Blasmusik so gut, jugendliche Fans zu begeistern?
MR: Ich glaube nicht, dass die Akkordeonszene uncool ist. Meine Meinung ist, dass es für alle Musikgenres Vorbilder braucht, denen man nacheifert. Vorbilder, die ihr Können auch leben. Auf der Bühne und neben der Bühne. Vielleicht hat da die Akkordeonwelt noch Aufholbedarf.
NG: Siehe oben: Der Trend setzt die Maßstäbe.
Mittlerweile sind Ihre Erfolgstitel ja auch für Akkordeonorchester erschienen. Wie stehen Sie dazu, dass Blasmusik nun auch mit dem Akkorden gespielt wird? Es ist ja doch ein ganz anderes Klangerlebnis.
MR: Ich finde sowas genial und macht mich stolz. Es gibt nichts Schöneres, als wenn die eigene Musik mit allen Instrumenten funktioniert.
NG: Wenn die Titel gut interpretiert werden, empfinde ich persönlich die verschiedenen Akkordeon-Varianten als harmonisch und schön und diese können ebenso gut das Publikum begeistern. Auf YouTube finden sich tolle Aufnahmen auch von sehr jungen Akkordeonspielerinnen und -spielern, die insgesamt bereits weit über fünf Millionen Mal aufgerufen wurden, z.B. von der Quetschen Akademie, von Richard Winkler und von Sarah Steiner.
Jahrelang hatten das Akkordeon und die Blasmusik ihre eigene individuelle, abgetrennte Szene. Mittlerweile gibt es sehr viele Arrangements von Blasmusiktitel auch für Akkordeonorchester. Durch verschiedene Konzepte und variable Stimmensätze ist es sogar möglich, dass beide zusammen in einem Orchester spielen. Da auch in der Blasmusikszene ein Trend zu kleineren Besetzungen zu erkennen ist, wäre dies doch Bereich der Annäherung und Symbiose von Akkordeonmusik und Blasmusik. Wie betrachten Sie diese Entwicklung?
MR: Natürlich passt das Akkordeon perfekt in die Blasmusik. Viele Besetzungen speziell bei uns im Alpenland sind ohne Harmonika oder Akkordeon nicht spielfähig. Aufgrund der fehlenden Literatur natürlich wird es in großen Blasorchestern weniger eingesetzt als in der Volksmusik oder Unterhaltungs-Blasmusik. Aber man weiß nie, vielleicht gibt es bald einen Akkordeon-Boom, der über die Blasmusik kommt, und bei Jung und Alt für Furore sorgt
NG: Diese Entwicklung gefällt mir persönlich sehr gut und ich freue mich über diesen Trend. Ich finde das Akkordeon beispielsweise in den mittlerweile auch wieder aufkommenden Oberkrainer-Besetzungen oder den 7er-Besetzungen eine wunderbare Ergänzung zu den Blasinstrumenten.
Vielen Dank für das Interview und weiterhin viel Erfolg mit der Musik!
Mathias Rauch
(* 1976 in Schwendau, Tirol, Österreich) ist ein österreichischer Komponist, Arrangeur, Kapellmeister und Tubist.
Mathias Rauch studierte Tuba in München bei Thomas Walsh und danach studierte er für ein Jahr am Music-College Chicago. In den folgenden Jahren gewann er verschiedenste Solowettbewerbe weltweit. Ab 2007 war Rauch Tubist bei den Innsbrucker Böhmischen. Mit diesen gewann er 2011 auch mit seiner Komposition »Tuba Wahnsinn« den Preis für die beste Komposition für Solo und Blechbläserensemble in New York City. Seine Komposition »Böhmische Liebe« wurde zu einem der bekanntesten Stücke der modernen böhmischen Blasmusik und wurde über eine Million Mal verkauft. Rauch schrieb bisher über 400 Werke für Blasorchester und Besetzungen jeglicher Art.
Norbert Gälle
(* 1. März 1964 in Weingarten) ist ein deutscher Komponist, Musiker und Heizungsbauer.
Im Alter von dreizehn Jahren erlernte Norbert Gälle eigentlich »das Tenorhornspiel«. Bis 1987 war er aktiver Blasmusiker und Mitglied im Musikverein Grünkraut und im Musikverein Gornhofen. 1989 gründete er zusammen mit seinem Bruder Anton die Scherzachtaler Blasmusik, in der er als Tenorhornist tätig ist. 1995 schrieb Gälle seine erste Polka, die den Titel »Heimweh« trägt. Bekannt wurde er durch seine Komposition der Polka »Böhmischer Traum«. Gälle spielte unter anderem bei Wilfried Rösch, Peter Schad, Robert Payer und zahlreichen weiteren Egerländer-Besetzungen mit.
Gottfried Hummel
(* 2. März 1968 in Löffingen) ist ein deutscher Dirigent, Musiklehrer, Komponist und Arrangeur. Seine Kompositionen und Arrangements werden in der Akkordeonszene vielfach gespielt. Hummels Arrangements reichen von Volksmusik und Schlager bis hin zu Rock, Pop und Klassik. Auch im Bereich Blasmusik ist er mit Kompositionen und Arrangements vertreten. Als Musikpädagoge entwickelte er Konzepte für das gemeinsame Musizieren von Spielerinnen und Spielern aller Altersstufen sowie Schwierigkeitsgrade in einem Akkordeonorchester. Weitere Informationen: https://www.editionhummelton.com/