Das Akkordeon neu entdeckt: Visselhövedes Orchester räumt mit Vorurteilen auf
Bericht von Lucia Gefken (Rotenburger Kreiszeitung)
Akkordeonmusik verbinden wohl viele Menschen mit alten Seefahrern, die in heruntergekommenen Spelunken Melodien spielen, welche mindestens so antiquiert anmuten, wie der Ruf des Instruments selbst. Dass die Ziehharmonika aber wesentlich mehr zu bieten hat und ihr das verstaubte Image zu Unrecht zugeschrieben wird, beweist das Akkordeon Orchester Visselhövede bei seiner ersten offenen Probe in Visselhövede.
Sieben Gastmusiker spielen mit
An diesem Montagabend haben sich nicht nur die Mitglieder des Orchesters in der Aula der Oberschule in Visselhövede eingefunden, neben rund 15 neugierigen Zuschauern sind auch sieben Gastspieler – ein Schlagzeuger, ein Querflötist und fünf Akkordeonspielerinnen – angereist. Obwohl die Gruppe bisher in dieser Konstellation noch nie zusammen gespielt hat, startet sie „zum Warmwerden“ direkt mit einem gemeinsamen Stück. Dafür hat Dirigentin Svenja Löding das anspruchsvoll klingende Lied The Phantom of the Opera ausgesucht. „Dies ist eine Probe, kein Konzert“, erklärt sie, während sie die letzten Notenzettel verteilt und den Gastmusikern Plätze zuweist. Bevor der erste Akkord die Aula erfüllt, ermutigt sie: „Traut euch, auch wenn nicht jeder Ton perfekt sitzt. Lieber überzeugend falsch, als schüchtern richtig.“ Und schon erklingt die düstere Melodie des berühmten Musicals.
Rund 30 Musikerinnen und Musiker lassen selbstbewusst ihre Instrumente ertönen. Schlagzeuger Otto, der heute als Gastspieler bereits zum zweiten Mal das Orchester unterstützt, gibt den Takt vor, daneben spielt ein Kontrabassist die charakteristischen, tiefen Tönen. Der Querflötist wirkt etwas verloren, er ist umringt von zahlreichen Akkordeons, die das musikalische Gesamtbild in der Aula dominieren. Wer sich mit dem Handzuginstrument bisher nicht weiter auseinandergesetzt hat, wird an diesem Abend von der Vielfältigkeit – sowohl auf musikalischer Ebene, als auch von den Orchestermitgliedern – überrascht.
Harry Potter und AC/DC
„Das Akkordeon arbeitet sein Leben lang gegen Vorurteile“, erklärt Dirigentin Löding noch vor der Probe. Die gelernte Handzuginstrumentemacherin kennt sich mit Akkordeons aus, sorgt als geprüfte Ausbilderin gemeinsam mit Merle Resener, der Vorsitzenden des Vereins, für Nachwuchs und hat auch ihre Töchter vom Instrument überzeugen können. Die Dirigentin verweist auf den vielfältigen Einsatz: „Entgegen allen Klischees gegenüber dem Akkordeon ist jede Musikstilrichtung möglich, von Rock und Pop über Jazz bis hin zu Hardrock. Wir haben auch AC/DC im Repertoire.“
Was gespielt wird, entscheiden alle Orchestermitglieder gemeinsam. Das Miteinander und der Spaß an der Musik stehen laut Löding im Vordergrund. Die gute Laune im Team ist auch während der offenen Probe zu spüren. Zwischen den Stücken wird gelacht, sich gegenseitig bei schwierigen Akkorden geholfen und gequatscht. Auch die Gastspielerinnen und -spieler werden schnell integriert, Jung und Alt sitzt bunt gemischt zusammen. Die jüngste Spielerin ist 15 Jahre, der älteste 81. Die Dirigentin selbst sorgt für eine lockere Atmosphäre, erklärt dem Publikum, warum sie da vorne „so mit den Händen herumwedelt“ und überlässt dem Orchester beim letzten Stück komplett die Führung, um den Zuschauern zu verdeutlichen, wie es ohne Zeichen eines Dirigenten klingen würde – zu Beginn läuft noch alles, aber zwischendurch verpasst doch der eine oder andere Spieler seinen Einsatz.
Dass Akkordeon nicht gleich Akkordeon ist, erfährt das Publikum bei den Proben zum Harry-Potter-Medley. Löding erläutert, wie das Orchester aufgeteilt ist. So finden sich verschiedene Akkordeongruppen, die wahlweise die Haupt- oder Nebenmelodie, die dritte Stimme oder den Rhythmus vorgeben. Dazu spielen die Musiker Pianoakkordeon und Standardbassakkordeon. Darüber hinaus gibt es verschiedene Größen des Instruments und weitere Bauarten und Kategorien, wie etwa Konzertina oder Bandoneon.
Bei „Nimbus 2000“, einem kurzen Auszug aus dem Medley, zeigt das Orchester auch, wie die einzelnen Stücke „erarbeitet“ werden. Die Dirigentin gibt das gewünschte Tempo vor, der erste Durchgang ist recht langsam. Beim zweiten Durchgang erhöht Löding das Tempo. Dass sich der eine oder andere Musiker verspielt, sieht man eher, als dass man es als Laie hören kann. Ein verlegenes Lächeln, kurze Pause der Finger auf den Tasten, ein Blick zum Sitznachbarn und schon steigen sie wieder ein. Immer dem vorgegebenen Motto folgend: Lieber überzeugend falsch, als schüchtern richtig. Bis das Stück richtig sitzt, wird das Orchester noch ein paar Wochen üben, immer in kurzen Segmenten, nie stundenlang das gleiche Lied – das ist Lödings Lernansatz.
Nach dem Einblick ins Medley spielt das Orchester ein paar „einfache“ Lieder fürs Publikum. Bei Liedern wie Hollywood Hills von Sunrise Avenue geben alle Gas, auch Otto am Schlagzeug, der zwischendurch Probleme mit den nicht vorhandenen Noten hat. „Spiel halt irgendwie“, ist die Vorgabe von Löding und erinnert an das Motto: Selbstbewusst falsch, statt schüchtern richtig.
Infos und Termine
Wer Lust hat, beim Orchester mitzumachen, kann sich unter 04266/9819251 oder 01511/8405284 bei Merle Resener melden. Am 20. September findet das Jahreskonzert des Orchesters in der Oberschule Visselhövede statt. Weitere Infos und Termine unter www.akkordeon-vissel.de.