Interview mit Christoph Karle, dem Direktor der BDB-Musikakademie Staufen
Das im Oktober 2021 verabschiedete Gesetz zur ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalter soll die Betreuungslücke, die oftmals nach der Kita-Zeit entsteht, schließen. Wie können Vereine diese Chance auf Breitenwirkung musikalischer Bildung für sich nutzen und sich gleichermaßen der Herausforderung flächendeckender und verlässlicher Angebote stellen? HI-Verlegerin Andrea Iven hat darüber mit Christoph Karle, dem Direktor der BDB-Musikakadmie in Staufen, gesprochen.
Herr Karle, bitte führen Sie unsere Leserinnen und Leser in das Thema ein. Was ist das »GaFöG«?
GaFöG, das Ganztagsförderungsgesetz, ist ein vom Gesetzgeber vorgeschriebenes Gesetz für die Grundschulen, um neue Rahmenbedingungen für den Ganztag in der Grundschule zu schaffen. Man möchte die Betreuungslücke nach der Kita schließen und den Eltern einen Anspruch darauf ermöglichen, dass das Kind während der Grundschulzeit von Montag bis Freitag nach der Schule bis 17.00 Uhr eine Betreuung findet. Dieses Ganztagsförderungsgesetz stellt die Politik natürlich vor immense Herausforderungen, aber gleichzeitig auch uns, die Amateurmusik. Ab August 2026 hat jedes Grundschulkind einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung.
Ein gelungener Ganztag benötigt vielfältige pädagogische Angebote.
Für die Amateurmusik gäbe es hierbei aber ja die Chance, ein neues Bildungsangebot zu schaffen, an dem wirklich jedes Kind teilnehmen kann. Das klingt sehr nach Chancengleichheit?
Genau. Musik ist optimal dafür geeignet, Kinder in eine Kommunikationsebene zu bringen und sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu stützen. Wir kennen die Studienlage, wir wissen, was Musik in Kindern bewirken kann, aber auch in Erwachsenen. Meiner Meinung nach müssen wir das Ganztagsförderungsgesetz definitiv als Chance sehen, denn es bietet uns die Möglichkeit, Kinder über eine lange Periode hinweg zu begleiten, nämlich über vier ganze Schuljahre. Hier können wir auch viele Kinder erreichen, die wir bisher nicht erreicht haben. Wir können sie über die Musik immens fördern, eine Gemeinschaft entwickeln, den sozialen Zusammenhalt in jungen Jahren über ein tolles Medium, über die Musik, gestalten. Wir können Strukturen entwickeln in unserer Amateurmusik. Und das sollten wir ganz vorne anstellen.
Ich weiß wohl, dass wir in der Amateurmusik in unserem Alltag sehr viel zu tun haben, das betrifft die Chöre genauso wie die Akkordeonisten, die Gitarristen, die Bläser- und Streicherwelt oder die Zupf- und die Zithermusikerinnen und -musiker. Wir alle haben mit Jugendförderung zu tun – und auch mit Nachwuchssorgen. Wir haben alle den Auftrag, uns darum zu kümmern, dass Musik weiterhin eine wichtige Rolle spielt. Aber gerade die Grundschulzeit ist eine prägende Zeit für Kinder. Diese sollten wir nutzen.
Man muss sich vorstellen, das Ganztagsförderungsgesetz betrifft von Montag bis Freitag sowohl die Nachmittage als auch die Vormittage. Da gibt es sehr viele Momente, die wir gestalten müssen und die wir gestalten können. Gleichzeitig muss man wirklich sagen, dass die Zeitfenster der Kinder immer geringer werden im Ganztag. Die Musik wird immer mehr in die Abendstunden gedrängt. Dazu gibt es verschiedene Aspekte, die ich ganz konkret erwähnen möchte: Zum einen müssen wir schauen, dass wir in der Gemeinsamkeit vor Ort auch gemeinsame Strukturen entwickeln; also dass nicht das Chorwesen alleine auf die Grundschule zugeht und sich das Blasmusikwesen in einer Parallelveranstaltung an die Schule wendet, sondern dass man hier Koordinationsstellen bildet. Diese müssten aber auch finanziert werden, wir können das nicht auf ehrenamtliche Schultern verlagern. Jedes kleine Dorf in Baden-Württemberg beispielsweise hat Vereinsstrukturen, die teilsweise 150 Jahre alt sind. Und auf diese sollten wir zurückgreifen und dabei auch Verlässlichkeiten entwickeln. Aber wie gesagt – um dies zu koordinieren, muss das Land Gelder zur Verfügung stellen und wir müssen intensiv zusammenarbeiten, zum Beispiel auch mit dem Musikschulverband. Zwischen dem Musikschulverband und dem Landesmusikverband Baden-Württemberg [Dachverband der Amateurmusikverbände in Baden-Württemberg, Anm. d. Red.] beispielsweise gibt es bereits ein sehr gutes Konzeptpapier. Das haben wir im Landesmusikverband in einem eigenen Arbeitskreis in Zusammenarbeit mit dem Landesverband der Musikschulen erstellt, um aufzuzeigen, welche großen Potenziale in der Musik bzw. in der musikalischen Bildung stecken, aber auch, was für Rahmenbedingungen dafür nötig sind.
Neue Formen der Vereinsjugendarbeit in der Grundschule können entstehen.
Wie ist denn die gesetzliche Lage? Sind die finanziellen Mittel bereits klar und geregelt?
Nein. Ich kann nur für Baden-Württemberg sprechen, und da gibt es noch keine finanziellen Zusagen dazu, wo wir als Amateurmusik partizipieren können oder worauf wir unsere Vereine bereits hinweisen können. Aber 2026 ist ja quasi schon übermorgen und dann geht es weiter in 2027, da sind es dann schon zwei Schulklassen und bald darauf drei. Wir hoffen darauf, dass das Land relativ schnell Finanzmittel in Aussicht stellt, damit wir unsere Vereine auch vorbereiten können. Teils wissen diese schon Bescheid. Die Lehrerkollegien in den Grundschulen werden, über die Kultusministerien, offiziell informiert. Gleichzeitig gibt es viele Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die noch gar nicht wissen, was da auf uns zukommt.
Wie schätzen Sie den Kenntnisstand zu dem Thema derzeit bei den Kommunen ein?
Teilweise vorhanden, wenn ich mit Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern spreche, teilweise auch im privaten Bereich. Es ist definitiv noch nicht auf der Agenda, dass man ab 2026 in der Grunschule viel mehr vorweisen muss als bisher. In Baden-Württemberg informieren wir aktuell aktiv über den Landesmusikverband, aber auch über dessen Mitgliedsverbände. Wir kommunizieren es an die Vereine und sprechen sie auch aktiv an, sie sollen auf ihre Bürgermeister zugehen, damit diese und auch die Gemeinderäte frühzeitig informiert werden von unserer Seite. Denn ich glaube, dieses Thema steht noch nicht auf Tagesordnungspunkt Nummer Eins, sondern noch irgendwo unter »Verschiedenes«, weil 2026 gefühlt noch weit weg ist.
Die Schulen und die Schulträger, welche ja oftmals die Kommunen selbst sind, haben jetzt wohl ein erstes offizielles Schreiben erhalten.
In den Verbänden und Vereinen versuchen wir ein Bewusstsein zu schaffen, welch große Chance da auf uns zukommt: Es ist nichts Unlösbares, sondern wenn die Ganztagsbildung gestärkt wird, wird auch der Gedanke »Ich als Verein bin Bildungsträger« gestärkt. Ja, wir sind keine Betreuer, wir sind Bildungsträger. Wir haben Vieles im Bereich Bildung zu leisten und können auch Vieles leisten, natürlich immer in Zusammenarbeit mit der Profiszene, mit Musikpädagoginnen und -pädagogen von den Musikschulen den Musikvereinen oder aus der Freelancerschaft. Probiert es aus, Konzepte gibt es! Wir empfehlen allen Vereinen: Geht auf die Grundschulen zu. Gestaltet eure musikalische Grundausbildung für Kinder in den Grundschulen. Konzepte gibt es.
Ich als Verein bin Bildungsträger.
Was ist in Ihren Augen also die Aufgabe der Verbände zum jetzigen Zeitpunkt?
Informieren, entwickeln, Mut machen, aber auch klare, basisnahe Konzepte liefern. Welche Literatur gibt es schon, welche methodisch-pädagogischen Konzepte gibt es, welche Bücher, welche Lehrmaterialien – damit man ein möglichst gutes Portfolio hat, um den Vereinen aufzuzeigen, hier und dort gibt es schon viel Gutes! Wir müssen Fachkräfte ausbilden. Wir müssen mit der Politik sprechen, dass sie Gelder zur Verfügung stellt für die Organisation und Durchführung. Und dass die Gelder – das ist mir persönlich auch wichtig – von den Vereinen abgerufen werden können und nicht über die Schulen. Sonst sind wir Bittsteller bei den Schulen. Wir müssen ebenfalls direkt unterstützt werden, als Partner der Schule und der Kommune, damit wir sagen können: Wir werden gefördert, wir haben Finanzmittel erhalten, wir können den Grundschulganztag mitgestalten für alle Kinder. Die Vereine können auch in Block- oder Wochenmodellen die Ferien mitgestalten. Die Vereine brauchen jetzt Konzepte oder zumindest erste Ideen – und das funktioniert nur gemeinschaftlich! Der Blasmusikverein muss auf den Chor zugehen, der Akkordeonverein auf das Gitarrenorchester oder auch auf das Sinfonieorchester. Wir müssen aufeinander zugehen und sagen, wir gestalten das in 2026 gemeinsam. Und gleichzeitig müssen wir Gemeinderäte und Bürgermeisterinnen und Bürgermeister auf das Thema ansprechen, und natürlich auch die Grundschulen.
Wir müssen aufeinander zugehen und sagen, wir gestalten das in 2026 gemeinsam.
Gibt es denn bereits Beispiele für geeignete pädagogische Konzepte?
Natürlich gibt es das übergeordnete Thema »Klassenmusizieren«, dann gibt es hier in Baden-Württemberg auch das methodische Konzept Singen-Bewegen-Sprechen (SBS), das dann auch in die Elementare Musikpädagogik (EMP) übergehen kann. Hierzu hat der Musikschulverband bereits ein sehr gutes Bildungskonzept entwickelt. Außerdem gibt es auch sehr niederschwellige Angebote, so gibt es zum Beispiel den »Kreativen Musikspielplatz«, verschiedene Ferienprogramme und eine »Kreativbox«. Wir haben in der BDB-Musikakademie in Staufen verschiedene Themen entwickelt, die man nutzen kann. Im Jahr 2016, als die Geflüchtetenwelle kam, hatten wir den Integrationsbotschafter sowie verschiedene Ideen entwickelt, um auch Kinder, die noch nicht lange in Deutschland leben, mit Kindern zu vernetzen, die schon lange hier wohnen. Solche Konzepte sollten weiter ausgearbeitet und weiterentwickelt werden. Der Arbeitskreis Musik im Landesmusikverband Baden-Württemberg wird To-Do-Listen erstellen. Als Vorsitzender dieses Arbeitskreises werde ich mit meinem Team auf die Pädagogischen Hochschulen und die Musikhochschulen zugehen und Empfehlungslisten mit bereits vorhandener Literatur für die Vereine anlegen. Gerade auch im Bereich »Flex-Ensembles« müssen wir uns stets weiterentwickeln. Hier werden natürlich auch die Musikverlage gebraucht werden.
Vielen Dank für das informative Interview. Wir sind sehr gespannt auf die weiteren Entwicklungen und werden unsere Leserinnen und Leser auf dem Laufenden halten.
GaFöG – Herausforderung und Chance
Ganztagsförderungsgesetz (GaFög) = Gesetz zur ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalter
Ziel GaFög: Betreuungslücke nach der Kita schließen
Stufenweise Einführung in der Grundschule: Ab Schuljahr 2026/2027 zunächst für Klasse 1, dann jahrgangsweiser Aufbau bis Schuljahr 2029/2030
Zukunft aktiv gestalten
-
- Setzen Sie sich frühzeitig mit Institutionen vor Ort zusammen und entwickeln Sie Ihr Vor-Ort-Konzept.
-
- Arbeiten Sie mit allen Vereinen (Instrumental- und Chorwesen) zusammen.
-
- Beraten Sie Ihre Angebote frühzeitig zusammen mit der Musikschule und Ihren musikpädagogischen Partner*innen/Lehrkräften.
-
- Treten Sie schon heute in Kontakt mit der Grundschulleitung und schaffen Sie frühzeitig eine gute Kommunikationsebene.
-
- Kommunizieren Sie regelmäßig Ihre Bedarfe gegenüber und mit den Kommunen.
-
- Nutzen Sie die Chance, zusätzliche Kinder zu erreichen und in Gemeinsamkeit als verlässlicher Partner in der Grundschule präsent zu sein.
-
- Planen Sie Ihre bestehenden Kinderensembles in den Schulalltag ein.
-
- Schaffen Sie eine gute Kommunikationsebene zwischen den Kindern und Eltern der Grundschule und Ihrem Verein, damit Übergänge in weiterführende Schulen keinen Abbruch der musikalischen Ausbildung bedeuten.
Weitere Informationen:
-
- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/gesetze/gesetz-rechtsanspruch-ganztagsbetreuung-grundschulen-178966
-
- Landesmusikjugend Baden-Württemberg: https://landesmusikverband-bw.de/service/download/
-
- Singen-Bewegen-Sprechen https://kindergaerten.kultus-bw.de/,Lde/Singen-Bewegen-Sprechen%20_SBS_
-
- Der interkulturelle Musikspielplatz http://www.musikfest-bw.de/teilnehmer/inter-kultur-musikspielplatz/
Über den Autor
Christoph Karle setzt sich seit über 25 Jahren für Bildung und Qualität in der Amateurmusik ein. Als Geschäftsführender Präsident im Bund Deutscher Blasmusikverbände (BDB), Akademiedirektor der BDB-Musikakademie in Staufen sowie Vorsitzender im AK Musik des Landesmusikverbandes BW sind ihm Fort- und Weiterbildung in intensiver Zusammenarbeit aller Musiksparten ein großes Anliegen. Christoph Karle hat viele Fortbildungsformate, Bildungsfestivals sowie interkulturelle und interdisziplinäre Fortbildungsangebote ins Leben gerufen und entwickelt. In der BDB-Musikakademie in Staufen entstanden sehr viele erfolgreiche Konzepte. Mit dem Neubau der BDB-Musikakademie in Staufen und deren Eröffnung im Jahr 2024 werden diese weiter ausgebaut. Christoph Karle ist Dipl. Orchestermusiker und Musikpädagoge. Er studierte mit Hauptfach Trompete an der Musikhochschule Freiburg bei Prof. Anthony Plog.