1. Preis: Leon Jonas Thieme, Frauendorf
Prämiertes Werk: »…« (2022)
Leon Jonas Thieme (18) wurde in Riesa geboren. Seit 2010 erhält er seine musikalische Ausbildung an der Kreismusikschule »Gebrüder Graun« in Herzberg (Elster), zunächst lediglich im Fach Akkordeon bei Elvira Mader, später zusätzlich am Klavier bei Johanna Zmeck, im Fach Gesang bei Karolin Böckelmann sowie in Komposition bei Paul Peuker. Seit 2021 befindet er sich in den Hauptfächern Komposition und Akkordeon in der studienvorbereitenden Ausbildung (SVA).
Auch die bisherigen Erfolge des Nachwuchskomponisten können sich sehen lassen
Der junge Musiker nahm bereits an diversen Kompositionswettbewerben teil und konnte 2021 beim Landeswettbewerb »Jugend komponiert« Brandenburg mit seiner filmmusikalischen Komposition Cocoon Child für Orgel einen dritten Platz erreichen. 2022 erhielt er bei der Uraufführung seines Werkes Klang im Nebel für Symphonieorchester im Rahmen der 33. Orchesterwerkstatt junger Komponisten den Sonderpreis der Deutschen Orchesterstiftung. Auch am Instrument Akkordeon konnte er schon den ein oder anderen Erfolg verzeichnen, wie den dritten Preis beim Bundesfinale des Akkordeon Musik Preis 2021 (unter anderem auch mit einer eigenen Komposition) und den ersten Preis mit Sonderpreis bei »Jugend Musiziert« 2022. Neben seiner beginnenden Arbeit als Komponist ist er auch landesweit bei verschiedenen Spielleute-Formationen als Arrangeur gefragt. Er selbst ist aktives Mitglied im Schalmeienorchester Tettau / Frauendorf e.V. und dort mit der musikalischen Leitung vertraut.
Ein Digital Native in musikalischem Umfeld: Wie Thieme komponiert
Bezüglich seiner persönlichen Verfahrensweise beim Vorgang des Komponierens sieht sich Leon Jonas Thieme als ganz klassischen »Digital Native«, denn wie viele Kolleg*innen verbringt die meiste Zeit am Schreibtisch vor dem Bildschirm. Da Notationsprogramme ihm viel Arbeit abnähmen, sei dies für ihn die einfachste Variante. Auch Playbacks mit entsprechenden Software-Plug-Ins seien für ihn zum Teil ein »wahrer Traum«, wenngleich sie dennoch von einer Live-Aufführung »leicht zu toppen« seien, so der Nachwuchskomponist.
Häufig entstehen Leon Jonas Thiemes Ideen jedoch auch abseits des Bildschirms, da er in seinem Umfeld, z. B. in der Musikschule, leichten Zugriff auf verschiedene Instrumente hat – ein Vorteil, den er sehr zu schätzen weiß. So kann er viel selbst ausprobieren und sich einen ersten Eindruck davon verschaffen, ob und wie seine Überlegungen zu verschiedenen Spieltechniken auf den entsprechenden Instrumenten klingen könnten.
Beim Komponieren für sein Instrument, das Akkordeon, stünden seine Chancen auf eine präzise Klangvorstellung natürlich von vornherein besser, sagt Thieme. Gerade dieser Umstand sei allerdings auch der Grund, warum es ihm immer wieder »unfassbar schwer« fiele, mit dem zufrieden zu sein, was beim Komponieren dann tatsächlich auf dem Papier lande. Oft grüble er tage- und nächtelang über seinen ersten »Rohgedanken«.
Vorbilder und äußere Einflüsse
Zum Thema Vorbilder äußert der junge Komponist spontan, dass er immer wieder das Gefühl habe, sehr autark zu arbeiten – was sicherlich aber nicht stimme. Denn natürlich gäbe es Künstlerinnen und Künstler, die er sehr gerne und auch immer wieder höre, die ihn in seinen Hörgewohnheiten und seiner Art des Schreibens beeinflussen. Als erstes zeitgenössisches Stück zum Beispiel sei ihm Unter den Himmeln von Peter Hoch in Erinnerung, das er als Spieler im Landesjugend-Akkordeonorchester Brandenburg erleben durfte.
Als kleinen »Funfact« zu äußeren Einflüssen bei seiner Kompositionstätigkeit berichtet Leon Jonas Thieme, dass er in einem Stück einmal aus Versehen ein Motiv aus Star Wars eins zu eins kopiert habe, was seinem Kompositionslehrer aber glücklicherweise sofort aufgefallen wäre.
Thiemes Gedanken zu Akkordeon und Akkordeonorchester
Den grundsätzlichen Klangcharakter des Akkordeons beschreibt Thieme als sehr vielseitig. Bei Solo-Konzerten erzähle er dem Publikum beispielsweise gerne, der »kleine Kasten« auf seinem Schoß habe viel von einer Orgel, sowohl mit seinen Registern als auch bei der Klangerzeugung. Nur sei das Akkordeon noch »viel cooler«! Es gebe so viele Wege, wie man interessante Klänge aus diesem Instrument bekäme, dass er nach wie vor davon begeistert sei, was alles machbar ist.
Außerdem beneidet er jeden Dirigenten und jede Dirigentin eines Akkordeonorchesters: Denn die nahezu »unerschöpflichen Möglichkeiten«, die sich bei der Klanggestaltung mit einem Akkordeonorchester böten, seien »einfach umwerfend«, so Thieme. Das Akkordeonorchester als »Instrument des Dirigenten« könne er am besten in einem Wort beschreiben: wandelbar.
Thieme ist der Meinung, dass durchaus mehr konzertante Musik und auch sehr gerne Neue Musik gespielt werden sollte. Weil das Akkordeon ein so junges Instrument sei, stünden zur Klangerforschung alle Türen offen. Aus seiner Sicht sollten sich viel mehr Komponierende mit dem Klangkörper Akkordeonorchester befassen, vor allem, um es den Ensembles schlichtweg möglich zu machen, neue Literatur zu bekommen. Ein Traum für ihn wäre es, das Akkordeon aus der Volksmusik-Ecke zu holen und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Akkordeonistinnen und Akkordeonisten viel mehr mit ihrem Instrument ausdrücken könnten, als vielerorts geglaubt würde.
Motivation durch Mitbestimmung und Selbstwirksamkeit
Interessant ist auch Thiemes Blickwinkel zum pädagogischen Thema »Akkordeon und Nachwuchs«. Er selbst empfindet Ensemblearbeit in allen Formationen als große Bereicherung und hat großen Spaß daran, sei es als Spieler oder als musikalischer Leiter. Er ist der Ansicht, wenn man der Jugend Freiheiten und ein Mitbestimmungsrecht einräume, ihnen das Gefühl gebe, in und mit ihrem Ensemble viel erreichen zu können, dann sei die Freude am Musizieren die beste Werbung und ein Ansporn für andere, nachzuziehen.
Hintergründe zur Preisträger-Komposition »…« (2022)
Thiemes beim Wolfgang Jacobi Kompositionspreis 2023 erstplatzierte Komposition »…« (2022) wurde inspiriert von Paul Celans Todesfuge – einem Gedicht aus der Zeit des Nationalsozialismus. Damit schlägt der Nachwuchskomponist eine unmittelbare Brücke zu Wolfgang Jacobi, dem ein Berufsverbot in dieser Zeit die Chance auf größere Bekanntheit verwehrte. Das Preisträgerwerk spiegele den trostlosen und grauenvoll-gefährlichen Alltag Inhaftierter wider, führt Thieme aus und beschreibt diesen wie folgt:
»das Trotten der Gefangenen, das Stürmen durch kahle Bäume, stete Ungewissheit was kommen mag, etwaige Schrecksekunden, aber auch die hoffnungsvollen Erinnerungen an wunderbare Zeiten, welche oft das einzige waren, was KZ-Insassinnen und -Insassen blieb. Es war mir schon lange ein Anliegen, ein Stück mit Bezug auf diese schlimme Zeit der Geschichte zu schreiben. Dieser Wettbewerb schien mir als ideale Gelegenheit und das zum einen, weil Jacobi selbst beide Weltkriege miterlebte, ich also einen biografischen Bezug sah. Zum anderen bietet das Akkordeon als so junges Instrument für mich noch viel Raum für klangliche Entdeckungen, welchen ich in diesem Werk genutzt habe. Der Werktitel soll dabei als eine mehrsekündige Pause ausgesprochen werden und dadurch einige Sekunden die Unruhen in und um den Raum wahrnehmbar machen.«
2. Preis: Janin Janke, Potsdam
Prämiertes Werk: Traumfetzen
Janin Janke wurde 1996 in Berlin geboren und verbrachte dort die ersten zwei Jahrzehnte ihres Lebens. Bereits mit Eintritt in die Grundschule lernte sie das Akkordeon kennen und lieben und wurde schnell Teil des Akkordeonorchesters Musika Akkordia unter der Leitung von Susanne Gräming, in dem sie noch heute aktiv ist. Zusätzlich nahm sie ab 2007 Klavierunterricht im Jazz- und Popbereich und lernte hierbei auf praktisch-spielerische Weise auch die Welt der Musiktheorie kennen.
Werdegang im und nach dem Studium
Nach ihrer Schulzeit nahm Janin Janke ein Studium der Musikwissenschaften an der Humboldt Universität in Berlin auf, an dem sie vor allem der soziale Aspekt der Musik begeisterte. Seither versucht sie bewusst, Menschen mit Musik zusammenzubringen. Sie besuchte Kurse im Bereich Instrumentation, Satztechnik und Komposition an der Universität der Künste Berlin und nahm dabei die zeitgenössische Musik in den Fokus.
Seit 2019 lebt Janin Janke zusammen mit dem Akkordeonisten und Arrangeur Björn Kasan in Potsdam und schreibt neben eigenen Stücken vor allem auch Arrangements für Akkordeonorchester, die die beiden auf ihrer Website »JK Accordion Arrangements« veröffentlichen.
Die Dramaturgie im Fokus: Janin Jankes Vorgehen beim Komponieren
Die Ideen für ihre Stücke entwickelt Janke stets unabhängig vom Instrument. Bei ihren Arrangements für Akkordeonorchester ist es ihr wichtig, eine gute Dramaturgie, einen roten Faden oder eine Geschichte zu finden und zu erzählen. Das mache die Musik zugänglicher und gebe ihr eine »logische Struktur«, so die Komponistin. Inspiration dafür ziehe sie aus ihrer Umwelt: Das könne eine wunderschöne Naturlandschaft, ein besonderer Augenblick mit den liebsten Menschen oder auch eine gesellschaftliche Konfliktsituation sein – alles werde gefiltert und auf dem ein oder anderen Weg verarbeitet. Danach komme das wirkliche Handwerk: Die Einfälle werden in Form gebracht, geordnet und auch gegebenenfalls aussortiert. Das geschehe zumeist am Instrument, am Klavier oder Akkordeon – je nachdem, was gerade da sei.
Durch ihren, wie sie ihn selbst beschreibt, intuitiven Zugang zur Musik hat sich Janin Janke schon früh Melodien oder kleine Stücke ausgedacht und an ihren Instrumenten improvisiert. Ernsthaft begonnen, ihre Ideen aufzuschreiben, hat sie jedoch erst mit 18 Jahren: In dieser Zeit ging sie oft in die Oper, auch das Theater faszinierte sie. Schließlich begann sie, ein Musiktheaterstück zu schreiben. Bisher landeten die meisten ausgearbeiteten Ideen Jankes in ihrer Schublade – in nächster Zeit jedoch habe sie vor, diesen Stücken den letzten Schliff zu verleihen, erzählt die Nachwuchskomponistin. Ihr preisgekröntes Werk des Wolfgang-Jacobi-Wettbewerbs, Traumfetzen, ist tatsächlich ihre erste veröffentlichte eigene Komposition!
Immer wieder beschäftigen Janin Janke Fragen zum eigenen Stil, darunter der für sie sehr wichtige Aspekt, ob sie künftig künstlerisch autark und versiert komponieren möchte, oder doch eine für die »breite Masse« zugängliche Musik. Aktuell bevorzugt sie es, einen Mittelweg zu wählen, auch wenn dieser manchmal recht schwer erscheint. In diesem Sinne begeistern sie die Werke von Rebecca Saunders oder auch Jörg Widmann. Besonders interessiert sie das Neue Musiktheater, welches aus ihrer Sicht durch die Verbindung von »traditioneller« Kunstmusik und Geräuschen bzw. ungewöhnlichen Objekten und Klängen eine neue Ebene der Verständigung schaffe.
Werke mit Vorbildcharakter und was diese gemeinsam haben
Von echten Vorbildern zu sprechen, fällt Janin Janke eher schwer: Viele berühmte Komponist*innen hätten unter ganz anderen gesellschaftlichen Umständen gelebt und ihr ursprünglicher Kompositionszugang durch Skizzen und Tagebucheinträge könnten in der heutigen Zeit größtenteils nur noch erahnt werden, erläutert sie. Wenn sie aber lediglich das musikalische Resultat betrachte, sei sie ein großer Fan von Beethoven, vor allem von seiner 6., 7. und 9. Symphonie. So unterschiedlich die Werke in ihrem Ausdruckscharakter sind, so haben sie aus Jankes Sicht eines gemeinsam: Mit ihnen werde eine Geschichte erzählt, die musikalisch jeweils enorm »versiert« sei und zugleich die Zuhörerschaft mitreiße. Janin Jankes insgeheime Hoffnung ist es, Vergleichbares auch mit ihrer Musik erreichen zu können.
Der Klangkörper Akkordeonorchester und sein vielseitiges Potenzial
Als Komponistin ist es Janke ein persönliches Anliegen, viel von bereits bestehenden »Musikkonstrukten« wie Sinfonieorchestern oder auch Pop- bzw. Jazzbands zu lernen, allerdings ein Akkordeonorchester nicht als Nachahmung derer zu verstehen: Sie sehe dieses als eigenständigen Klangkörper, der zwar durch andere Instrumente angereichert werden könne, Stärken jedoch vor allem aus den eigenen vielfältigen und wandelbaren Fähigkeiten des Instruments Akkordeons ziehe, erklärt das Nachwuchstalent. Auf der Suche nach neuen Möglichkeiten gehe sie gedanklich tatsächlich oft in den sinfonischen Bereich. So würden sich ihrer Ansicht nach beispielsweise riesige schwebende Klangflächen wie in impressionistischen oder Ligetis Werken, z. B. Lux Aeterna oder Atmosphéres, auch bestens für das Akkordeonorchester anbieten. Gerade mit seinem breiten Frequenzspektrum könne hier noch »Atemberaubendes« geschaffen werden, so Janin Janke.
Anregungen zur Nachwuchsarbeit
Im Umgang mit der musikalischen Jugend findet es die Nachwuchskomponistin wichtig, heranwachsenden Spielerinnen und Spielern ein gutes, strukturiertes Programm zu geben. Zum einen sollten bei der Ausbildung möglichst verschiedene Genres, die der Akkordeonklang bedienen kann, klar werden – sie denke hier zum Beispiel an irische Folklore und argentinischen Tango bis hin zu Mozart und Beethoven. Dabei solle es nicht nur darum gehen, die Musik zu spielen, sondern auch etwas über die dazugehörige Kultur, die Geschichte und die Bedeutung der Musik zu verstehen. Zum anderen sollte man, so Janin Janke, auch stets Raum für Neues schaffen: für neue kompositorische Ideen, aber auch für neue Ideen von der Jugend selbst. Mitspracherecht bei der Repertoire-Auswahl, flache Hierarchien und eine gemeinsame Erarbeitung eines Programms und Konzertes (auch außerhalb der Musik) empfindet Janin Janke dabei als die entscheidenden Faktoren.
2. Preis: Volodymyr Runchak, Kiew/Ukraine
Prämiertes Werk: Three sides of the same coin
Volodymyr Runchak (63) aus Kiew, Ukraine, ist Komponist sowie Dirigent und bereits Preisträger zahlreicher internationaler Kompositionswettbewerbe. Über den deutschen Akkordeonisten Andreas Nebl erfuhr er von der Ausschreibung des Wolfgang Jacobi Kompositionspreises. Runchak verfolgt sehr breite künstlerische Interessen. Im Fokus seines bisherigen Schaffens stehen vor allem Werke für Sinfonie- und Kammerorchester, kleine Ensembles, Solisten und Chöre.
Aktivitäten in verschiedensten Bereichen
Seine Tätigkeit als Dirigent umfasst insbesondere Aufführungen von Werken moderner ukrainischer, aber auch internationaler Komponistinnen und Komponisten. Doch auch im organisatorischen Bereich ist Runchak aktiv, unter anderem in der Durchführung von Festivals und Konzerten wie beispielsweise »Neue Musik in der Ukraine«. Volodymyr Runchaks Stücke werden seit Jahren erfolgreich bei internationalen Festivals für moderne Musik in unterschiedlichen Ländern aufgeführt. Seine Recitals fanden auf vielen internationalen Bühnen statt, z. B. in Kiew, Charkiw, Luzk, New York, München und Paris.
Musik entsteht zunächst im Kopf
Hinsichtlich seiner Art und Weise, zu komponieren, berichtet Runchak: »Ich erschaffe Musik in meinem Kopf. Dieser Vorgang findet überall und sogar im Schlaf statt. Wenn das Konzept des Werks vollständig fertig ist, beginnt die Phase der Aufnahme. Diese geschieht sowohl am Instrument (Klavier, Akkordeon) als auch am Tisch mit Stift und Papier, bevor der Computer zum Einsatz kommt. Nach der Ur- oder auch mehreren Aufführungen eines Werkes können Korrekturen am Notentext vorgenommen werden.«
Zu seinen unmittelbaren Vorbildern zählt Runchak Bach, Schostakowitsch und Strawinsky. Unter den Klassikern des 20. Jahrhunderts sind ihm die Komponisten der Neuen Wiener Schule Schönberg, Webern und Berg sehr wichtig. In Bezug auf moderne Klassiker fallen ihm Lutoslawski, Berio, Ligeti und Kagel ein, und unter den lebenden Komponist*innen sieht er vor allem Adams, Eggert und Widmann als spannende Musiker an.
Ein Verfechter der Neuen Musik
Runchak bezeichnet sich selbst als »Verfechter« der modernen Musikkunst. Seit drei Jahren moderiert er die Sendung »Neue Musik in der Ukraine« auf dem Dritten Kultur-Kanal der National Radio Company of Ukraine. Er initiierte auch die Aufführung einiger Orchester- und Ensemblestücke von Komponisten-Klassikern des 20. Jahrhunderts wie Dmitri Schostakowitsch, Edgar Varèse, Luigi Nono, Karl-Heinz Stockhausen, György Ligeti oder Luciano Berio.
Ein Instrument der Zukunft mit zahlreichen Möglichkeiten
Für Runchak ist das Akkordeon ein »Instrument der Zukunft«. Aus seiner Sicht leisten die führenden Instrumentenbauer*innen, die er »Meisterdesigner« nennt, großartige Arbeit, um die Möglichkeiten, Musik mit dem Akkordeon auszudrücken, immer weiter zu verbessern.
Ein Akkordeonensemble oder -orchester ist für Runchak das »jüngste der Orchestermöglichkeiten«. Er vergleicht es mit einem Saxophonensemble mit zwölf oder mehr Instrumenten: Die Repertoire-Möglichkeiten seien hierbei »riesig«.
Was Originalmusik angehe, so gebe es aus seiner Sicht nach wie vor einen gewissen »Repertoire-Hunger«. Eine Veranstaltung wie der Wolfgang Jacobi Kompositionspreis sei diesbezüglich ein willkommener Beitrag. Die Hauptsache sei, dass Akkordeonorchester, die sowohl in Bildungseinrichtungen als auch in Vereinen aktiv sind, genügend Informationen über die im Wettbewerb prämierten Werke bekämen und sie in ihren Programmen aufführten.
Überlegungen zum Erreichen einer breiteren Öffentlichkeit
Um die Wahrnehmung von Akkordeonorchestern in der breiten Öffentlichkeit zu stärken, schlägt Runchak vor, bekannte Solisten und Solistinnen einzubeziehen – nicht nur aus dem Akkordeonbereich, sondern auch Vertreterinnen und Vertreter klassischer Instrumente. Außerdem könnten Aufführungen im Rahmen von Festivals für moderne Musik eine wichtige Chance sein.
Für ihn seien zudem nicht nur traditionelle Konzerte interessant, sondern auch Formate, bei denen eine Kommunikation mit dem Publikum stattfinden könne. Sinnvoll seien auch Konzerte in Kindertagesstätten und Schulen, um jüngere Generationen dazu anzuregen, Musikschulen zu besuchen. »Wir müssen unkonventionell denken – und die Dinge werden schnell funktionieren!«, lautet Runchaks abschließendes Credo.
3. Preis: Sergey Khismatov, Berlin
Prämiertes Werk: Quasars
Sergey Khismatov (29) wurde in St. Petersburg, Russland, geboren. Er studierte zunächst an der Europäischen Universität St. Petersburg. 2010-2012 besuchte er Kompositionsseminare von Prof. Moritz Eggert in München und nahm außerdem an Kompositionsmeisterklassen bei Enno Poppe, Pascal Dusapin und Helmut Lachenmann teil. 2012 wurde Khismatov mit einem Preis des Ministeriums für Kultur von St. Petersburg ausgezeichnet, im selben Jahr erhielt er für seine Mini-Oper nach basho beim OSSIA Wettbewerb in New York den ersten Preis. 2013-2014 war er Stipendiat am Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg. Mit seinem Werk Voice Quartet gewann er den Hof Klang Kompositionswettbewerb und wurde damit auch Hof Klang artist-in-residence 2013. 2014 erhielt er den Boston Metro Opera Advocacy Award, 2017 nahm er an der dokumenta13 teil.
Ideen von überall her: Wie Khismatovs Kompositionen entstehen
Beim Erinnern an seine Anfänge des Komponierens erzählt Khismatov, dass er sich zunächst versucht sah, die alten Meister des Barock nachzuahmen, später auch die Größen der Romantik. Erst danach habe er die Musik des 20. Jahrhunderts und die moderne Klangkunst für sich entdeckt. Interessant ist auch sein bescheidenes Hauptmedium zum Komponieren: nicht etwa ein Klavier oder ein Laptop, nein… Für ihn ist es: »Meine Stimme unter der Dusche…«
Trotzdem arbeitet er wie viele moderne Komponierende auch am Computer. Er sagt, seine Ideen flögen ihm »von überall her« zu. Sehr oft kämen sie zum Beispiel während Konzerten, Ausstellungen, Spaziergängen – manchmal auch bei Partys. Beim Arbeitsvorgang des Komponierens korrigiere er sehr viel und versuche, mit der Zeit eine Perfektion zu erreichen, die aus seiner Sicht letztlich jedoch unmöglich sei. Khismatov beansprucht für sich selbst innerhalb der Kompositionswelt keine bestimmten Vorbilder: Viel wichtiger scheine ihm stattdessen »ein Lehrbuch der Musikgeschichte«.
»Der schlanke Bruder der Orgel«
Den Charakter des Instruments Akkordeon, mit dem er sich in Verbindung mit dem Wolfgang Jacobi Kompositionspreis näher auseinandergesetzt hat, beschreibt Khismatov als »kraftvoll, energisch, barbarisch und unaufhaltsam«. Er betrachte das Akkordeon als »den schlanken Bruder der Orgel«.
Auf die Frage, wo er denn die Zukunft des Akkordeonorchesters sehe, ließe sich für den Komponisten nach eigener Aussage wenn dann unmittelbar innerhalb seines musikalischen Ausdrucksvermögens eine Antwort finden: durch eine neue Komposition.
4 Komponisten – 4 Fragen. Andreas Nebl interviewt:
Moritz Eggert
Andreas Nebl: Wie haben Sie die Anfänge Ihres Komponierens in Erinnerung?
Moritz Eggert: Ich hatte seit frühester Kindheit immer sehr intensiv Musik im Kopf – jedes gelesene Buch hatte einen inneren Soundtrack. Ich konnte immer bestimmte musikalische Besetzungen im Kopf »einschalten« und dann wie eine Art Radio anhören – keine erinnerte, sondern im Moment erfundene Musik. Mir war aber gar nicht bewusst, dass das mit Komponieren zu tun hat, und eigentlich bin ich auch nur über viele Zufälle und Umwege zur Musik gekommen. Richtig ernst wurde Musik dann für mich im späten Teenager-Alter, daraus stammen auch meine ersten richtigen Kompositionen.
Wie komponieren Sie – im Kopf, am Klavier, am Schreibtisch, am Computer, im Freien? Korrigieren Sie immer wieder? Erzählen Sie gerne »aus dem Nähkästchen« …
Wie gerade beschrieben ist für mich das Komponieren im Kopf der entscheidende Faktor. »Herumnudeln« am Klavier kann manchmal ablenken, manchmal vertraue ich aber auch spontanen Ideen, die sich zum Beispiel durch Improvisation ergeben. Ich singe sehr viel beim Komponieren, auch daraus entsteht einiges. Skizzenarbeit auf Papier ist entscheidend, anschließend verbringe ich täglich ein bis zwei Stunden damit, das Ganze mit einem Notenprogramm ins Reine zu schreiben, da meine eigenen stenographischen Skizzen sehr abgekürzt sind und ich sie schnell nicht mehr lesen kann. Dann gibt es noch viele Korrekturschritte, die aus reiner editorischer Arbeit bestehen und sich hinziehen können, da ich auf sehr exakte und korrekte Notation viel Wert lege. Wenn ein Stück abgeschlossen ist, rühre ich es nur noch zur Fehlerkorrektur an. Ich überarbeite nicht ständig alte Sachen, weil es mir zu viel Spaß macht, neue zu schreiben.
Welche Vorbilder haben Sie als Komponist?
Das wären viel zu viele Namen, um sie hier aufzuzählen. Es fällt mir immer schwer, einen »Lieblingskomponisten« oder eine »Lieblingskomponistin« zu nennen, da das immer etwas Ausschließliches hat. Ich kann z. B. an so ziemlich allen Komponierenden, die uns aus der Vergangenheit überliefert sind, etwas finden, denn es hat ja schon einen Grund, warum wir sie noch kennen, nämlich eine herausragende Qualität! Deswegen finde ich es immer schwierig zu sagen, ob ich nun z. B. Beethoven, Mozart oder Schumann mehr liebe, weil ich vor dem Werk all dieser Komponisten exakt denselben Respekt empfinde. Besonders spannend finde ich, wie die Großen der Vergangenheit jeweils ihre Schwächen überwunden haben – keine*r von ihnen war nämlich perfekt, Gott sei Dank!
An heutiger Musik wiederum interessiert mich vor allem, welche ästhetischen Impulse sie mir gibt, welche neuen Ideen sich auftun. Extrem abgesicherte oder akademische Musik langweilt mich schnell, da ich dezidiert der Meinung bin, dass alles, was im Leben vorkommt, auch in der Musik vorkommen muss. Ebenso gelangweilt bin ich von Musik, die mir keinerlei Fragen stellt und mich nicht im Geringsten fordert. Ich hege auch eine große Sympathie für »Outsider«-Musik – also Musik von Künstlerinnen und Künstlern, die sich überhaupt nicht einordnen lassen und unkonventionelle oder sogar gänzlich eigenartige Wege gehen.
Wie würden Sie den grundsätzlichen Klangcharakter des Akkordeons sowie eines Akkordeonorchesters beschreiben und wo sehen Sie für die Zukunft innovative Ansätze im Umgang mit dem Klangkörper Akkordeonorchester?
Die große Stärke des Akkordeons ist die Klarheit der Tongebung, gekoppelt mit den expressiven Möglichkeiten des Balgs. Es kann mit einem Ensembleklang verschmelzen wie auch aus ihm herausstechen, daher ist es den Streichern sehr ähnlich. Ich mag es auch sehr, dass das Akkordeon problemlos mit beiden Händen in derselben Lage spielen kann, was interessantere Texturen ermöglicht als zum Beispiel auf dem Klavier, wo sich die Hände in den Weg kommen. Gleichzeitig kann es aber mit entsprechender Registrierung auch wunderbar »perkussiv« wirken.
Im Akkordeonorchester kann ich diese Dinge vervielfachen, wobei ich es bis heute schade finde, dass man meistens nur mit einer Hand spielt. Ich verstehe zwar, dass man damit Laien den Zugang erleichtert und mehrstimmiges Spiel bei der ohnehin schon dichten Textur weniger Sinn macht, aber auch in einem Streichorchester gibt es Divisi und das Spiel auf mehreren Saiten. An einzelnen Stellen kann das sehr wirkungsvoll sein!
Das Akkordeon ist zwar vom spielerischen Niveau unglaublich durchgestartet in den letzten Jahrzehnten, aber viele Veranstalter*innen Neuer Musik tun sich nach wie vor schwer, geeignete Akkordeonistinnen und Akkordeonisten zu finden, wenn sie mal gebraucht werden. Daher zögern viele junge Komponierende, das Akkordeon einzusetzen. Zum Teil aus Unkenntnis, zum Teil, weil sie sich nicht trauen, es zu verwenden. Akkordeonorchester sind daher eine wichtige Schnittstelle – wenn das technische Niveau kontinuierlich steigt wie in der letzten Zeit, wird es immer mehr verfügbare Spielerinnen und Spieler geben. Neue Kompositionen für Akkordeonorchester sind daher immens wichtig, um der Verwendung des Akkordeons in zeitgenössischer Musik eine noch größere Selbstverständlichkeit zu geben. Wir brauchen auch mehr Akkordeonorchester-plus-?-Werke. Symphonieorchester begleiten auch Solist*innen oder Gesang – warum also zum Beispiel nicht ein Konzert mit Akkordeonorchester und E-Gitarre? Je mehr es Verknüpfungen zu anderen Genres und/oder Instrumenten gibt, desto präsenter wird das Akkordeonorchester werden. Es muss ein bisschen aus der eigenen Szene heraus, denke ich.
Biografie
Moritz Eggert, geboren 1965 in Heidelberg, gilt als einer der vielseitigsten und innovativsten Künstler der Neuen Musikszene. Er ist freischaffender Komponist, tritt aber auch als Pianist, Dirigent, Performer und Autor in Erscheinung. Sein Werkverzeichnis als Komponist umfasst knapp 300 teils weltweit gespielte Stücke. Es enthält u. a. 19 abendfüllende Opern, mehrere Ballette sowie Arbeiten für Orchester-, Kammer- und Ensemblemusik und Film-, Radio- und Hörspielmusik. Gerne experimentiert er mit unterschiedlichen Musikstilen und engagiert sich aktiv für ein Umdenken im Zugang zu und im Umgang mit zeitgenössischer Musik. Für die Neue Musikzeitung betreibt er den »Bad Blog of Musick«, den meistgelesenen Blog für zeitgenössische Musik in Deutschland. Moritz Eggert ist Präsident des Deutschen Komponist:innenverbands, übt weltweit Lehrtätigkeiten aus und hat seit 2010 eine Professur für Komposition an der Hochschule für Musik und Theater München inne.
Peter Hoch
Andreas Nebl: Wie haben Sie die Anfänge Ihres Komponierens in Erinnerung?
Peter Hoch: Sehr vage, es ist schon allzu lange her! Erste »Zeugen«, d. h. Druckausgaben, gab es 1956/57 beim Hohner Verlag: Suite en miniature, Notturno und Zwei kleine Inventionen für Akkordeon, zunächst als Sonderdruck, dann später als Verlagsausgabe und bei Hohner-Schott z. T. schließlich in Das große M III-Buch, Bd.1. Ich war damals ein ambitionierter Akkordeonspieler. 1959 folgten die Sonate für Akkordeon (Verlag Hohner-Schott) und eine Konzertante Musik in 3 Sätzen für Akkordeon-solo und Großes Orchester (ebenfalls 1959). Die erstgenannten »autodidaktischen« Kompositionen haben nichts mehr mit meinen Werken ab 1959, nach dem Studium an verschiedenen Hochschulen und anderen Institutionen, zu tun.
Wie komponieren Sie – im Kopf, am Klavier, am Schreibtisch, am Computer, im Freien? Korrigieren Sie immer wieder? Erzählen Sie gerne »aus dem Nähkästchen«…
Alle genannten Situationen treffen zu, aber in der Reihenfolge Kopf, Schreibtisch, Klavier (oder Keyboard). Über zehn Jahre habe ich mit dem Computer notiert (nicht komponiert), nach längerer Pause habe ich den Anschluss an das Computerprogramm verloren, schreibe zur Zeit mit der Hand (oh wie wunderbar, in großer Ruhe und ohne störende Suche nach Problemlösungen). Für die Umsetzung in Computernotation benötige ich danach allerdings (insbesondere bei größeren Besetzungen) einen versierten Kenner oder eine versierte Kennerin aller Möglichkeiten des Computerprogramms. Im Freien? Ich bin kein »FKK-Anhänger«. Komponieren kann ich nur in meiner häuslichen Umgebung, d. h. am Schreibtisch, im Unterschied zum Texte-Schreiben und Malen! Korrigieren? Wenn nötig, ja. Das kommt darauf an, wie kompliziert die »Materie« ist.
Welche Vorbilder haben Sie als Komponist?
Als Vertreter der Neuen Musik habe ich viele Vorbilder aus der Avantgarde, sowohl in Bezug auf ihre hinterlassenen Aussagen zur Neuen Musik des 20. Jahrhunderts als auch hinsichtlich ihrer Kompositionen. An erster Stelle ist John Cage zu nennen, den ich persönlich kennenlernte, dann Karlheinz Stockhausen, bei dem ich viele Kurse für Neue Musik in Köln besucht habe.
Wie würden Sie den grundsätzlichen Klangcharakter des Akkordeons sowie eines Akkordeonorchesters beschreiben und wo sehen Sie für die Zukunft innovative Ansätze im Umgang mit dem Klangkörper Akkordeonorchester?
Die unterschiedlichen Kombinationen der Fußlagen 8′, 4′, 16′ sind sehr Orgel-affin. Als Solo – oder Kammermusikinstrument – dank der unterschiedlichen Registrierungsmöglichkeiten hat das Akkordeon herausragende zeitgenössische Klangeigenschaften, die sich viele Komponistinnen und Komponisten zu Eigen machten, wobei das Akkordeon in der Orchesterformation eine besondere Rolle spielt. Das Akkordeon in der Orchesterversion steht in Deutschland nach wie vor sehr im Feld der Amateurmusik, wodurch das Repertoire meist auf den Publikumsgeschmack ausgerichtet wird und sich häufig vor allem in der Popularmusik bewegt. Dazu brauchen wir geeignete Literatur, für die sich die Mühe lohnt, die anspruchsvoller und stilistisch vielfältiger werden kann und muss. Die Instrumente ermöglichen technisch und klanglich ein breites Spektrum an musikalischer Gestaltung. Auch die jungen Generationen, mit einer wachsenden Zahl an talentierten und spieltechnisch versierten Akkordeonspielerinnen und -spielern, sind höheren Ansprüchen gewachsen. Leuchtende Beispiele sind vorhanden! Bundes- und Landesjugendorchester mit hohem Niveau, zum Teil auch die Auswahlorchester, die den Stand ihrer Interpretationen in bundesweiten Wettbewerben immer wieder überprüfen können. Zu wünschen wäre mehr Mut zu Herausforderungen sowohl im Hinblick auf die Spielerinnen und Spieler als auch auf das Publikum! Die Kluft zwischen Publikum und musikalischer Qualität ist Jahrhunderte alt und kein Phänomen unserer Zeit, sie war und ist schon immer da! Amateurmusikerinnen und -musiker sind mit dem, was sie gegenüber (Amateur-)Musikliebhaber*innen erreichen können/wollen, nur schwer zu vereinen. Da braucht es engagierte Musik- bzw. Orchester-»Erzieher*innen« (es reicht auch ein guter Dirigent oder eine gute Dirigentin!). Es empfiehlt sich, einen Blick auf die Amateurmusiklandschaft der Blas- und Zupforchester und deren Entwicklung in den letzten zehn bis 20 Jahren zu werfen.
Biografie
Peter Hoch, 1937 in Pirmasens geboren, lebt als freischaffender Komponist in Trossingen. 1974-2001 war er Dozent und stellvertretender Direktor der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung. Er erhielt mehrere Preise für sein kompositorisches Schaffen, das Solo- und Kammermusik, Orchesterwerke, Experimentelle Musik, Schulmusik sowie Hörspiele umfasst, und veröffentlichte zahlreiche Publikationen. Neben dem Komponieren beschäftigt sich Peter Hoch autodidaktisch mit Malerei und Lyrik.
Stefan Hippe
Andreas Nebl: Wie haben Sie die Anfänge Ihres Komponierens in Erinnerung?
Stefan Hippe: Die erste Erinnerung geht zurück auf meine Zeit im Jugendakkordeonorchester, wo ich in der 4. Stimme begonnen und mir daraufhin Mitte 1979 in einem Nürnberger Schreibwarenladen zwölfzeiliges Notenpapier gekauft habe. Allein das Einkaufen ist mir in spannender Erinnerung geblieben, weil die Verkäuferin erst nicht wusste, was ich genau wollte. Mein erstes Stück hieß dann Ein Tag und war für Akkordeonorchester. Den Beginn habe ich noch im Kopf. Es beginnt mit dem ersten Satz: In der Nacht.
Als ich ein Jahr später ein neues Akkordeon mit MIII bekommen habe, musste ich unbedingt etwas für dieses neue Instrument schreiben. Es entstand eng mit dem neuen Instrument, das MIII wurde ausgiebig erforscht: Capriccio für Akkordeon solo. Der Titel stammt übrigens von meinem damaligen Instrumentallehrer Herbert Bausewein: Ich habe es ihm vorgespielt und er meinte, das sei ein Capriccio. In der Stunde bin ich dann mit ihm in die Musikschule einen Stock tiefer gegangen und musste dort Willi Münch das Stück vorspielen. Die beiden haben mir dann die Möglichkeit eröffnet, am Konservatorium (heute Hochschule für Musik) den Unterricht in Tonsatz (Vivienne Olive) und Komposition (Hans-Ludwig Schilling) zu besuchen.
Wie komponieren Sie – im Kopf, am Klavier, am Schreibtisch, am Computer, im Freien? Korrigieren Sie immer wieder? Erzählen Sie gerne »aus dem Nähkästchen«…
Die meiste Zeit denke ich über das neue Stück im Kopf nach. Wenn ich nicht recht weiterweiß, setze ich mich ans Klavier oder besser noch ans Akkordeon und fange an, zu spielen. Ich bin auf der Suche nach einem Impuls, den ich manchmal bekomme oder auch nicht. Der Impuls oder die Idee ist das Entscheidende. Sie können auch ganz unvermittelt kommen, wenn ich gerade etwas anderes tue, wenn ich unterrichte oder mit etwas Nicht-Musikalischem beschäftigt bin. Dann ist der Einfall da und ich mache eine kurze Notiz: Töne, Akkorde, Rhythmus – das, was ich an dem Einfall als besonders inspirierend erachte. Manchmal ist es auch eine formale Idee, also welcher Teil wie wiederholt oder aufgegriffen wird. Solange der Prozess des Komponierens andauert, wird viel verbessert, verworfen oder neu aufgesetzt. Ist das Werk einmal fertig, wird außer den Druckfehlern nichts Entscheidendes mehr korrigiert. Eine große Quelle für Musik sind für mich die Literatur und die bildende Kunst. Viele meiner Werke wären ohne diese nicht entstanden. Ich bin mit dem Komponisten Werner Heider befreundet: Er meint, dass die Ideen beim Komponieren vielleicht fünf Prozent ausmachen, alles andere seien Fleiß und Erfahrung. Dem würde ich mich so anschließen.
Welche Vorbilder haben Sie als Komponist?
Die erste Schallplatte, die ich hörte, war der vierte Satz aus der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven, gespielt zur Wiedereröffnung der Bayreuther Festspiele in den 50er Jahren unter Wilhelm Furtwängler. Beethoven und Wagner sprechen mich immer noch am meisten und sehr direkt an. Von beiden bin ich nicht mehr losgekommen. Sehr inspirierend wirken Liszt und Ravel auf mich. Auch in der zeitgenössischen Musik finde ich viele Werke, deren Schöpfer*innen ich als Vorbilder bezeichnen würde: die zweite Wiener Schule, Berio, Boulez, Grisey (bei dem ich ein paar Stunden in Komposition hatte), Ligeti, Messiaen, Stockhausen etc. Ich schätze aber auch viele Werke von Komponist*innen, die ich näher kennenlernen durfte, wie Heinz Winbeck und Werner Heider.
Wie würden Sie den grundsätzlichen Klangcharakter des Akkordeons sowie eines Akkordeonorchesters beschreiben und wo sehen Sie für die Zukunft innovative Ansätze im Umgang mit dem Klangkörper Akkordeonorchester?
Das Akkordeon hat einen sehr individuellen Klangcharakter, der sich von anderen Instrumenten deutlich abhebt. Je nach Instrumententypus und Hersteller klingen die durchschlagenden Zungen eher weich oder spitz, dunkel oder hell. In der Kammermusik mischt es sich gut mit allen anderen Instrumenten und findet seinen Platz sowohl im kleinen intimeren Dialog mit nur einem anderen Instrument als auch in einem größer besetzten Ensemble mit fünf oder mehr Spieler*innen. Was die Klangdichte betrifft, ist es im Spiel mit seinesgleichen (Akkordeon-Duo, -Trio, -Ensemble) meines Erachtens problematisch, weil der Satz des Werkes gut gesetzt sein muss. In der Mittellage ist der Klang besonders stark, deswegen muss der Satz dort besonders umsichtig und vorsichtig, also eher dünn gesetzt sein, sonst klingt es sehr schnell dumpf und mulmig. Ein Akkordeonorchester hat ein großes, umfassendes Klangspektrum, das für sich ein kleines Universum abbildet. Es ist im Übrigen auch das Ensemble, das in meinem Oeuvre die meisten Stücke verzeichnet (aktuell rund 40). Zu ihm habe ich die engste Beziehung, es ist für mich das inspirierendste.
Die Innovation wird man im Satztechnischen suchen müssen. Wie setze ich meine Klänge in welcher Dichte ein? Müssen wirklich immer alle beschäftigt sein und spielen? Wird das Orchester in sich aufgespalten in kleinere Gruppen oder bleibt es kompakt? Da gibt es unendliche Möglichkeiten. Die innovativen Ansätze sollten aber auch das Publikum erreichen, ebenso wie die ausführenden Musikerinnen und Musiker. Am schwersten scheint es mir zu sein, dass man das Akkordeonorchester nicht nur als arrangiertes Sinfonieorchester, als Popband oder Filmmusik-Ensemble sieht, sondern als den eigenständigen Klangkörper, das es ist.
Biografie
Stefan Hippe wurde 1966 in Nürnberg geboren. Er studierte am Meistersinger-Konservatorium Musik mit Hauptfach Akkordeon bei Willi Münch und Irene Kauper, danach an der Hochschule für Musik Würzburg Komposition bei Bertlold Hummel und Heinz Winbeck sowie Dirigieren bei Günther Winch. Für seine mittlerweile rund 70 Werke erhielt er diverse Kompositionspreise. Als Solist, Ensemblemitglied und Dirigent wirkt er bei zahlreichen Aufführungen zeitgenössischer Musik mit, die ihn u. a. nach Ungarn, Polen, Frankreich, Kanada und in die USA führten. Seit 2015 ist er Dozent für Dirigieren, Partiturspiel und Musikgeschichte am Hohner-Konservatorium in Trossingen und dirigiert außerdem das dortige Seminarorchester. Ehrenamtlich ist er seit vielen Jahren für den Deutschen Harmonikaverband tätig, seit 2009 als Bundesdirigent.
Manfred Stahnke
Andreas Nebl: Wie haben Sie die Anfänge Ihres Komponierens in Erinnerung?
Manfred Stahnke: Ich hatte einen sehr besonderen Schullehrer, Hans-Werner Stert, Studienrat und Organist – eigentlich ein Musiker. Als ich im fünften oder sechsten Schuljahr war, hat er mein Interesse für Musiktheorie bemerkt und angefangen, mich auch privat zu unterrichten. Zunächst nur in Harmonie und Kontrapunkt, aber bald auch in Zwölftontechnik. Ich erinnere mich, dass ich eine Zwölftonreihe schrieb und sehr überrascht war, als ich sie mir selbst am Klavier vorspielte. Mit fünfzehn Jahren bekam ich als Vorstudent Theorieunterricht bei dem Chorkomponisten Jens Rohwer in Lübeck, zusammen mit Geigen- und Klavierunterricht. Ich spielte im dortigen Orchester unter Werner Heider Moderne Musik von Rohwer, Heider und auch Britten. In Lübeck führte ich meine ersten Kammerstücke auf, bei denen mein Bruder Christian Geige spielte.
Wie komponieren Sie – im Kopf, am Klavier, am Schreibtisch, am Computer, im Freien? Korrigieren Sie immer wieder? Erzählen Sie gerne »aus dem Nähkästchen«…
Im Kopf, am Klavier, am Schreibtisch, am Computer, im Freien… Passiert alles stetig – ich korrigiere, verändere, mache neue Versionen, besonders nach Aufführungen. Nichts ist als »Werk« stabil.
Welche Vorbilder haben Sie als Komponist?
Abgesehen von vielerlei »Volksmusiken« aus unterschiedlichen Ländern, von Jazzimprovisationen oder Semi-Impros wie jenen von Miles Davis, sind das: Pérotin, Machaut, Solage, Senleches, Ciconia, Dufay, Obrecht, Gesualdo, Monteverdi, Purcell, Buxtehude, J. S. Bach, C. P. E. Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann, Berlioz, Brahms, Franck, Mahler, Janáček, Webern, Berg, Schönberg und manchmal auch Schostakowitsch, Boulez, Xenakis, Ligeti, Grisey, Ben Johnston sowie Ferneyhough und Mason.
Wie würden Sie den grundsätzlichen Klangcharakter des Akkordeons sowie eines Akkordeonorchesters beschreiben und wo sehen Sie für die Zukunft innovative Ansätze im Umgang mit dem Klangkörper Akkordeonorchester?
Oh, das hängt sehr von den jeweiligen Komponist*innen ab, wie sie das Instrument verwenden. Es kann so lyrisch sein, aber auch so präsent. Es ist ähnlich reich einsetzbar wie das Klavier. Ich habe selbst für Akkordeonorchester geschrieben und dabei das Räumliche erfahrbar gemacht. Raumaufstellung ist eine Chance für Innovation, für das Wandern des Klanges. Ich sehe eher nicht die klassische Orchesteraufstellung.
Biografie
Der Komponist und Musikologe Manfred Stahnke wurde 1951 in Kiel geboren. Ab 1966 studierte er in Lübeck Klavier und Komposition, ab 1970 in Freiburg, Hamburg und den USA Komposition, Musikwissenschaft und Computermusik. 1973 legte er sein Examen in Musiktheorie und Komposition in Freiburg bei Wolfgang Fortner ab und promovierte 1979 in Hamburg bei Constantin Floros über Pierre Boulez. Neben Wolfgang Fortner waren seine Hauptlehrer*innen in Komposition Klaus Huber und Bryan Ferneyhough (Freiburg), Ben Johnston (Urbana, USA), und György Ligeti (Hamburg). Stahnke war Mitbegründer, Komponist und Keyboarder des Chaosma Ensemble und komponierte außerdem für Ensembles wie das ensemble modern, das SWR Sinfonieorchester und das Nieuw Ensemble Amsterdam. Zu seinen Werken zählen u. a. drei Kammeropern, darunter die Internet-Oper Orpheus Kristall, Biennale München 2002. Er wirkte viele Jahre im Musikrat des Goethe-Instituts München und war 1988-2017 Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er freiberuflich tätig, u. a. im Hamburger TonArt Ensemble, und veröffentlichte das Buch »Györgi Ligeti: Eine Hybridwelt«, BoD, Norderstedt 2022.