Wie sieht das Jetzt aus und wohin geht die Reise?
Vereine sind Räume sozialer Interaktion und Innovation. Hier finden sich Menschen, die gleiche Interessen teilen, die gemeinsam etwas bewegen wollen – die sich einbringen. Diese Partizipation ist ein existenzieller Kitt für das gesellschaftliche Zusammenleben: Es bringt den Einzelnen Freude, in einer Gruppe aufzugehen, es ermöglicht das Erleben von Selbstwirksamkeit. Viele Musikvereine haben eine tiefe Tradition und regionale Verwurzelung, sie prägen das öffentliche Leben und den kulturellen Charakter ihrer Gegend.
Doch viele Vereine kennen auch die Herausforderungen durch die Vielzahl konkurrierender Freizeitangebote, den erhöhten Druck in Schule und Beruf, eine zurückgehende Bindung an den Wohnort, die sinkende gesellschaftliche Wertschätzung von Musizieren und Engagement und eine Professionalisierung der Öffentlichkeitsarbeit auf allen Ebenen des öffentlichen und sogar privaten Lebens.
Im Rahmen unseres Schwerpunktthemas widmen wir uns im Folgenden diesen Herausforderungen aus verschiedenen Perspektiven und folgen dabei einem Dreischritt: erkennen – bewerten – handeln.
Am Anfang steht das Bewusstwerden gesellschaftlicher Veränderungen: Unter welchen Rahmenbedingungen müssen Vereine heutzutage arbeiten und sich behaupten?
Im nächsten Schritt geht es um eine Bewertung dieser Veränderungen im direkten Bezug auf den eigenen Verein: Wo stehen wir, was ist unser Selbstverständnis, wohin gehen wir?
Den Abschluss bilden Berichte aus der Praxis, die auch das Musizieren in unterschiedlichen Lebensabschnitten darstellen. Damit Sie selbst aktiv werden können, stellen wir Ihnen ergänzend Förder- und Informationsangebote vor.
Schaut man auf die Entwicklung des ehrenamtlichen Engagements in den vergangenen Jahren, zeigt sich auf den ersten Blick eine gewisse Stabilität, wobei sich das Engagement je nach Tätigkeitsfeldern stark unterscheidet. Laut Ergebnissen des Freiwilligensurveys 2019 ist der Anteil der Engagierten in der deutschen Bevölkerung über die vergangenen 20 Jahre deutlich angestiegen: Während der Anteil der freiwillig Engagierten 1999 bei 30,9 Prozent lag, waren es 2019 39,7 Prozent. Der Anstieg wird dabei aber vor allem durch Personen über 65 Jahren angetrieben. Diese Entwicklung kennzeichnet direkt eine zentrale Herausforderung für die zukünftige Vereinsarbeit, den demografischen Wandel.
Seit vielen Jahren wird dieser sich weiter verstärkende gesellschaftliche Wandel mit unterschiedlichsten Perspektiven und Zielsetzungen diskutiert, da er alle Teilbereiche unseres gesellschaftlichen Lebens in den nächsten Jahrzehnten umfassend und nachhaltig verändern wird. Die Annahmen des Statistischen Bundesamtes von 2015 liefern eine Bevölkerungsvorausberechnung für das Jahr 2060 in Deutschland: Es wird angenommen, dass die Bevölkerung von derzeit 82 Millionen auf 76,5 Millionen Menschen schrumpfen wird, dass jede dritte Person über 65 Jahre alt sein wird und dass sich bedingt durch konstante Zuwanderungsbewegungen viele Gegenden weiter heterogenisieren werden. Dabei sind es vor allem ländliche Räume, in denen Strategien entwickelt werden müssen, um die Entwicklungen aktiv mitgestalten zu können, da ein großer Anteil der jüngeren Menschen, insbesondere jene mit höheren Bildungsabschlüssen, bevorzugt in Städte zieht. Für die urbanen Räume wird in den kommenden Jahrzehnten, trotz insgesamt sinkender Bevölkerungszahlen, ein Zuwachs prognostiziert.
Durch den demografischen Wandel stehen somit auch all jene, welche die Amateurmusik in vielfältiger Weise gestalten, vor großen Herausforderungen.
Die Musikvereine stehen vor dem Hintergrund der beschriebenen Veränderungen in immer stärkerer Konkurrenz zu anderen Angeboten. Dieser Situation kann jedoch auch positiv begegnet werden, da sie ein zeitgemäßes Selbstverständnis einfordert und dazu bewegt, innovative Wege einzuschlagen – eine zentrale Funktion, die das ehrenamtliche Engagement in demokratischen Gesellschaften erfüllt. Wie Musikvereine in einen Prozess gehen können, in dem neue Konzepte der Vereinsstruktur, der öffentlichen Darstellung, der Jugendarbeit und Erschließung neuer Zielgruppen entwickelt und erprobt werden, soll in diesem Beitrag ausführlich beleuchtet werden.
Richten wir den Blick zum Abschluss auf eine Zielgruppe, über die im Kontext der Zukunftsfähigkeit von Vereinen zwar häufig gesprochen, die jedoch ebenso häufig auch nicht zielgruppengerecht adressiert wird: die Gruppe der Kinder und Jugendlichen.
Eine Studie des deutschen musikinformationszentrums (miz) zum Amateurmusizieren in Deutschland aus dem Jahr 2021 zeigt einen engen Zusammenhang zwischen dem Einstiegsalter und der Intensität des Musizierens: (siehe Abb. 1).

Amateurmusizieren in Deutschland. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung in der Bevölkerung ab 6 Jahren, hrsg. Vom Deutschen Musikrat/Deutsches Musikinformationszentrum (miz) in Kooperation mit dem Institut für Demoskopie Allensbach (IfD), Bonn 2021, S. 20. https://miz.org/de/statistiken/amateurmusizieren-in-deutschland
Mit dieser Auswertung ist einerseits der klare Auftrag verbunden, Kindern und Jugendlichen möglichst früh Räume zu bieten, in denen sie gemeinsam musizieren können. Andererseits gilt es zu prüfen, wie Angebote geschaffen werden können, die Menschen in den Übergangsphasen von der Schule zum Studium bzw. zur Ausbildung abholen, da vergleichsweise viele junge Menschen in diesen Phasen und beim darauffolgenden Übergang in das Berufsleben mit dem Musizieren aufhören. Wie Grundbedingungen dafür geschaffen werden können, zeigt der Bericht über die Akkorden-AG an der Grundschule Löffingen auf Seite 16.
Neben dem Alter ist der sozioökonomische Status, und hier insbesondere der Bildungsstatus, eine sehr wichtige Zugangsvoraussetzung für ehrenamtliches Engagement, wie neben dem Freiwilligensurvey die Studie »Aufwachsen in Deutschland« des Deutschen Jugendinstituts aus dem Jahr 2019 detailliert aufzeigt: Je höher das formale Bildungsniveau ist, desto eher sind Menschen engagiert. Dies gilt für die Engagierten insgesamt genauso wie für die Engagierten speziell in Kultur und Musik. Hier sind formal höher gebildete Menschen überproportional vertreten (siehe Abb. 2).
städtischer Raum |
ländlicher Raum |
|
Abitur/Hochschulreife |
51 |
41 |
Fachhochschulreife/Berufsschulabschluss |
14 |
14 |
Mittlere Reife/Realschulabschluss |
25 |
32 |
Volks-, Hauptschulabschluss |
10 |
12 |
Abb. 2: Engagierte in Kultur und Musik im städtischen und im ländlichen Raum in Prozent, Freiwilligensurvey 2014, gewichtet
Um den genannten Entwicklungen angemessen begegnen zu können, braucht es vor allem eine innere Bereitschaft, Veränderungsprozesse mit Freude und Offenheit anzugehen. Das gemeinsame Musizieren, das nachweislich das gesundheitliche Wohlbefinden und die Freude steigert, bietet dazu die optimale Grundvoraussetzung. Haben Sie also Freude im Tun und wagen Sie gemeinsam etwas – die Zukunft beginnt jetzt!
Über den Autor
Außer der Projektförderungen, die hier bereits vorgestellt wurden, bietet Neustart Amateurmusik ein breit aufgestelltes Kompetenznetzwerk. Hier arbeiten neben den Autorinnen und Autoren des Titelthemas dieser Ausgabe von Harmonika International weitere 24 Expertinnen und Experten aus 15 Verbänden des BMCO aus den unterschiedlichsten Fachgebieten an Unterstützungsangeboten für die Amateurmusikszene.
Für den Deutschen Harmonika-Verband e.V. (DHV) sind Sabine Kölz und Andreas Zimmermann sowie DHV-Geschäftsführer Johannes Wollasch im Kompetenznetzwerk tätig. Sie bringen sich im Arbeitsbereich 4 »Kreative Lösungen« ein und arbeiten dort an unterschiedlichen Projekten. Einen großen Teil nimmt dabei das Themenfeld »Vereine neu denken« ein, zu dem aktuell Hilfestellungen erarbeitet werden.
Bei Fragen melden Sie sich gerne jederzeit bei Sabine Kölz und Andreas Zimmermann: per E-Mail unter sabine.koelz@dhv-ev.de oder zimmermann@dhv-ev.de oder telefonisch unter +49 (0)7425 95992 24
Andreas Zimmermann ist Soziologe und Musiker. Er produziert eigene Musik und absolviert eine berufsbegleitende Ausbildung zum Tontechniker. Vor seiner Tätigkeit für den DHV war er beruflich vor allem in der politischen Bildung aktiv, hier insbesondere in der Fortbildung von Lehrkräften.